GHOSTLIGHT von Kelly O’Sullivan & Alex Thompson

Romeo und Julia (Keith Kupferer, Dolly De Leon) © Sister Distribution

Reverse Engineering’ nennt man das Analysieren und Nachbauen von Algorithmen. Schauspielerin und Regisseurin Kelly O’Sullivan hat genau das mit Shakespeare versucht. Das Resultat ist Ghostlight, der kühne, im Resultat rührende, aber auch irgendwie absurde Versuch, ‘Romeo & Julia’ auf relevante Weise im Leben einer realen Familie zu verankern.

Dan ist Strassenbauarbeiter in Waukegan, Illinois. Seit dem Tod ihres Sohnes kämpfen er und seine Frau Sharon nicht nur mit ihrer Trauer, sondern auch mit den disziplinarischen Problemen ihrer Tochter Daisy. Eher zufällig gerät der verschlossene Dan an eine Amateurtheatertruppe, welche Shakespeares ‘Romeo & Juliet’ einstudiert. Und noch zufälliger geht schliesslich ausgerechnet die Rolle des Romeo an ihn, weil die Julia-Darstellerin Rita (Dolly De Leon) wie er schon im fortgeschrittenen Alter ist.

Natürlich gibt es keine Zufälle in Spielfilmen. Kelly O’Sullivan hat hier sorgfältig die Fäden ihres Drehbuches um unzählige Momente gewunden und den Film auch gleich zusammen mit ihrem Lebenspartner Alex Thompson inszeniert. Keith Kupferer, der Darsteller des Dan, und seine Frau Tara Mallen, welche Dans Frau Sharon spielt, sind auch im wahren Leben die Eltern ihrer Filmtochter Daisy (Katherine Mallen Kupferer). „GHOSTLIGHT von Kelly O’Sullivan & Alex Thompson“ weiterlesen

LA CACHE von Lionel Baier

Mère-Grand (Dominique Reymond) und Père Grand (Michel Blanc) mit ihren drei Söhnen (William Lebghil, Aurélien Gabrielli, Adrien Barazzone) © Pathé Films AG

Manchmal ist Transparenz die beste Strategie. Lionel Baiers letzter Film, La dérive des continents (au sud), drehte sich unter anderem um inszenierte und erzwungene politische und mediale Transparenz innerhalb der EU rund um die Mittelmeer-Flüchtlinge in einem Lager in Sizilien. Der Film zeigte unter anderem, wie die Medienteams von Angela Merkel und Emmanuel Macron vor deren Lagerbesuch die Lagerzustände so inszenierten, dass ihre Chefs dann für schnelle und medial wirksame «Verbesserungen» sorgen konnten.

Für sein jüngstes Werk, die freie Adaption des Erstlingsromans «La cache» von Christophe Boltanski, erlegt der Westschweizer Regisseur sich nun gleich selbst die Transparenzregel auf und inszeniert zum Filmeinstieg das Buch als Buch und damit den Film als persönliche Lektüre. Unter anderem, indem er, der Regisseur, auch gleich die Stimme des Ich-Erzählers liefert. Zugleich spielt er – typisch Baier – eine kleine Nebenrolle als verräterisch kleinlich nörgelnder Nachbar der Grossfamilie Boltanski, um die sich die ganze Geschichte dreht. „LA CACHE von Lionel Baier“ weiterlesen

READING LOLITA IN TEHRAN von Eran Riklis

Azar Nafisi (Golshifteh Farahani) © filmcoopi

Literarische Bestseller zu verfilmen ist ein tückisches Unterfangen. In der Regel sind es ja weder die sprachliche Brillanz noch die intellektuelle Tiefe, welche sich im Kino verkaufen, sondern die emotionale Wucht. Und dafür ist Eran Riklis Verfilmung von Azar Nafisis Roman «Reading Lolita in Tehran» ein Paradebeispiel. Die Emotionen sind da, die Wut, die Angst, die Hoffnung, gespiegelt in den Gesichtern der Darstellerinnen. Allen voran die stets mitreissende Golshifteh Farahani, die sich in diesem Film noch einmal selbst übertrifft.

Farahani spielt die iranischstämmige Literaturprofessorin, welche nach der islamischen Revolution von 1979 voller Hoffnung mit ihrem Ehemann aus den USA nach Teheran zurückkehrt, bloss um sehr bald ernüchtert die Unterdrückung der Frauen im allgemeinen und die Zensur der literarischen Studien im neuen Ajatollah-Regime zu erfahren. Sie gibt ihren Lehrstuhl auf und beginnt, mit ein paar ihrer engagiertesten Studentinnen in ihrem eigenen Wohnzimmer heimlich die verbotenen «dekadenten» englischsprachigen Klassiker zu lesen, angefangen mit Nabokovs «Lolita». „READING LOLITA IN TEHRAN von Eran Riklis“ weiterlesen

LES FEMMES AU BALCON von Noémie Merlant

Sanda Codreau, Noémie Merlant © frenetic

La canicule, die Hitze der Hundstage, liegt über Marseille, und das Leben der Frauen-WG von Ruby (Souheila Yacoub) und Nicole (Sanda Codreanu) findet hauptsächlich auf dem Balkon statt. Als dann auch noch Freundin Elise (Noémie Merlant) aus Paris dazustösst, im engen roten Kleid und mit Marilyn-Monroe-Look, japsend vor Atemnot, ist der Rahmen gesetzt für eine fröhliche Sommerkomödie. Dabei müsste das Publikum eigentlich gewarnt sein, denn die ersten Einstellungen des Films erinnerten nicht nur an Hitchcocks Rear Window, sondern zeigten auch fast beiläufig einen möglicherweise mörderischen Ehedisput auf dem Nebenbalkon.

Die Verweise auf andere Filme und Figuren kommen nicht von ungefähr, genauso wenig wie die blonde Perücke, welche Regisseurin Noémie Merlant in ihren ersten Szenen trägt. Elise ist Schauspielerin und hat eben in Paris in der Titelrolle einen Fernsehfilm über die Affäre von Marilyn Monroe mit Yves Montand während der Dreharbeiten zu Let’s Make Love abgedreht. Der Moment, in dem Elise die blonde Perücke schliesslich vom Kopf zieht, ist einer von etlichen überraschenden Kippunkten in der wilden, metaphorisch explosiven und stilistisch hypereklektischen Achterbahnfahrt von Les femmes au balcon. „LES FEMMES AU BALCON von Noémie Merlant“ weiterlesen

LES FANTÔMES von Jonathan Millet

Hamid (Adam Bessa) und Harfaz (Tawfeek Barhom) © cineworx

Auf den ersten Blick verbindet den palästinensischen Schauspieler Tawfeek Barhom (Boy from Heaven, 2022) wenig mit dem britischen Über-Mimen Sir Laurence Olivier. Und doch hat mich der raffinierte Polit-Spionage-Rache-Thriller Les fantômes immer wieder an John Schlesingers Marathon Man (1976) mit Dustin Hoffman und Laurence Olivier erinnert.

Zunächst natürlich, weil die beiden Filmfiguren, Tawfeek Barhoms Harfaz in Les fantômes und Laurence Oliviers Zahnarzt Christian Szell in Marathon Man, eine mögliche Vergangenheit als Folterer verbindet. Vor allem aber, weil die furchtbaren Schatten der Vergangenheit in beiden Filmen ihren eigenen Terror-Tenor ausbreiten. „LES FANTÔMES von Jonathan Millet“ weiterlesen

MILCHZÄHNE von Sophia Bösch

Das Waldmädchen Meisis (Viola Hinz) © dschointventschr

Wolfskinder haben ganz kleine Zähne, die nie ausfallen. Erst wenn die Milchzähne ihrer Kinder ausfallen, können Eltern und Dorfbewohner darum sicher sein, dass ihr Nachwuchs nicht durch ein Wolfskind aus dem Wald ersetzt worden ist.

Die 19jährige Skalde ist die beste Spurenleserin und Jägerin der kleinen Dorfgemeinschaft. Wie alle anderen Jugendlichen trägt sie ihre Milchzähne als Kette um den Hals. Und das kleine Mädchen, das aus dem Wald gekommen ist, zu ihr und ihrer Mutter Edith, das müsste Skalde eigentlich töten. „MILCHZÄHNE von Sophia Bösch“ weiterlesen

DANS LA CUISINE DES NGUYEN von Stéphane Ly-Cuong

La reine des nems: Yvonne Nguyen (Clotilde Chevalier) © First Hand Films

«Kulturelle Aneignung» gehört zur DNA des Musicals, die Exotisierung der Realität ist letztlich eine subtile Form der Satire, Ironie der ideale Stoff für des Kaisers neue Kleider. Man denke bloss an Gilbert & Sullivans «The Mikado» als Vorläufer oder an Rogers & Hammersteins «South Pacific» als eine der Kronen des Konzepts.

Wohl auch darum hat sich der Franco-Vietnamese Stéphane Ly-Cuong schon von mehr als 25 Jahren als Musical-Kritiker und Schauspieler die Figur der Yvonne Nguyen ausgedacht, eine in Frankreich geborene Tochter vietnamesischer Eltern. Sie trägt all die Dilemmata der Einwandererkinder in sich, die kulturelle Schizophrenie, den Kampf gegen die Klischees und die Typisierung, und die zeitweilige Verlorenheit zwischen Abstammung und Geburtsland. „DANS LA CUISINE DES NGUYEN von Stéphane Ly-Cuong“ weiterlesen

DIE VORKOSTERINNEN (Le Assaggiatrici) von Silvio Soldini

Kriemhild Hamann, Olga von Luckwald, Elisa Schlott, Emma Falck © Morandini Film Distribution

«Es ist Ihnen nicht gestattet, zu erbrechen!»

Den grotesken Satz bellt ein SS-Offizier in Richtung der verängstigten jungen Frauen, welche eben erfahren haben, dass die ihnen servierte Mahlzeit vergiftet sein könnte. Sie wurden im Dorf zusammengetrieben, in der Kaserne von einem Arzt auf ihre Gesundheit getestet und dann ohne Erklärung an den Tisch gesetzt, an dem sie Hitlers nächste Wolfsschanzen-Mahlzeit verkosten müssen.

Hat Adolf Hitler zwangsrekrutierte Vorkosterinnen gegen einen möglichen Giftanschlag eingesetzt? Es scheint plausibel, wenn man den Erinnerungen der 2014 verstorbenen Margot Wölk Glauben schenkt. Der Spiegel publizierte 2013 die Geschichte der Frau, welche diese im Jahr davor in einem Interview als 94jährige der Berliner Zeitung enthüllte, nachdem sie sie zuvor zeitlebens für sich behalten hatte. „DIE VORKOSTERINNEN (Le Assaggiatrici) von Silvio Soldini“ weiterlesen

ON FALLING von Laura Carreira

Aurora (Joana Santos) © frenetic

Als sie von der freundlichen Frau beim Vorstellungsgespräch gefragt wird, was sie denn so in ihrer Freizeit mache, fällt Aurora spontan bloss «die Wäsche» ein. Dann verstummt sie, und schliesslich laufen ihr die Tränen übers Gesicht. Tatsächlich hat die Portugiesin in ihrem Arbeitsexil im schottischen Edinburgh weder die Energie noch die «social skills», um die paar Stunden zwischen Schichtende und Erschöpfungsschlaf mit mehr als permantem Doomscrolling auf dem Mobiltelefon zu füllen.

Zu wenig zum Leben, zuviel zum Sterben. Das gilt zwar auch für Auroras Verdienst, welchen sie als «Picker» in diesem Amazon-ähnlichen Warenverteilzentrum erzielt. Vor allem aber gilt der Satz für die Lebensqualität. Die Arbeit ist öde, entfremdet, enorm anstrengend und komplett sinnlos. „ON FALLING von Laura Carreira“ weiterlesen

BERGERS (Schäfer) von Sophie Deraspe

Félix-Antoine Duval, Solène Rigot © Agora Films

Mathyas ist am Tiefpunkt angelangt, ausgerechnet jetzt, wo ihn die quirlige Élise auf dem zerfallenden Hof in der Provence besucht:  «C’est violent ici. Même le soleil est violent!» – «Alles hier ist voller Gewalt. Sogar die Sonne ist bösartig…»

Der junge Aussteiger hat die Werbeagentur in Kanada verlassen, um in der französischen Provence als Schäfer anzuheuern. Ohne Erfahrung, ohne Aufenthaltsbewilligung, aber wild entschlossen, das «richtige» Leben zu finden. Und vielleicht ein Buch zu schreiben.

Élise ist die junge Beamtin im Büro der Einwohnerkontrolle in Arles, die ihm eröffnet, dass er keine Chance habe, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Den Antrag dafür hätte er von Kanada aus stellen müssen. Seine Offenheit, sein Charme und seine Verzweiflung haben es ihr angetan: Man könne ja auch schwarz arbeiten… „BERGERS (Schäfer) von Sophie Deraspe“ weiterlesen