Jagten ist in einem gewissen Sinne die Rückseite von Vinterbergs 1998er Dogma-Erfolg Festen. Ging es damals darum, im Rahmen eines grossen Familienfestes den lange zurückliegenden Kindsmissbrauch des Patriarchen ans Licht zu zerren, dreht sich Jagten um das schiere Gegenteil. Es ist die Geschichte einer Hexenjagd auf Pädophilieverdacht.
Mads Mikkelsen spielt Lucas, einen arbeitslosen Primarlehrer, der als Kindergärtner eine neue Stelle gefunden hat am Ort, an dem er aufgwachsen ist. Er ist mitten in der Scheidung und im Sorgerechtsstreit mit seiner Ex-Frau um den Sohn. Und da macht die fünjährige Klara, die Tochter seines besten Freundes, gegenüber der Kindergartenleiterin eine eifersüchtige Bemerkung über Lucas, den sie heiss liebt, der aber einen Kuss auf den Mund von ihr zurückgewiesen hat, „weil das nur für Mama oder Papa“ sei.
Bald darauf ist er Teufel los, Lucas wird suspendiert die Eltern informiert, die Kinder überbieten sich gegenseitig mit Geschichten und Lucas durchlebt die Hölle. Das ist packend und nervtötend, aber in den ersten fünfundvierzig Minuten fast zwangsläufig ziemlich absehbar. Arthur Miller hat seinen ‚Crucible‘ seinerzeit als Parabel auf die Kommunistenhatz McCarthys geschrieben, bei Vinterberg war es ein Psychiater, der ihm nach dem Riesenerfolg von Festen nahelegen wollte, auch die Kehrseite zu beleuchten. Damals, 1999, hätte er das einfach beiseite gelegt, sagt Viinterberg. Aber als er zehn Jahre später selber einen Psychiater brauchte, sei er zu diesem gegangen und habe eher aus Höflichkeit die Papier gelesen.
Von „unterdrückter Erinnerung“ sei da die Rede gewesen, und von „Gedanken als Virus“. Und so ist das Drehbuch zu Jagten entstanden. Aber so einleuchtend, zwingend und erschreckend die Schilderung der allgemeinen Pädophilenhatz aufgrund einer einzigen Bemerkung einer fünfjährigen auch sein mag: Der Film bezieht seine Exstenzberechtigung erst aus dem letzten Drittel. Denn die Schiderung der Katastrophe, des Verrats und Abfalls der besten Freunde, der Ausstossung, die ist nicht völlig unbekannt. Atemberaubend ist das, was danach folgt, wie Lucas reagiert, wie er weiterzuleben versucht und wie der Film zu einer Art Endlosschleife mit Hoffnung wird.
Jagten hat die inszenatorische Dichte von Festen, die durchdachte Drehbuchstruktur der besten Post-Dogma-Produktionen und Schauspieler, die das tragen können. Dass die Zuspitzung der Ereignisse ihre Zeit braucht und damit in der ersten Hälfte manches absehbar wird, ist allenfalls eine erzählerische Schwäche. Dem Stoff und dem Thema nimmt es allerdings nichts an Dringlichkeit und Verzweiflung.
Jagten als Rückseite von Festen zu sehen ist verlockend. Noch spannender aber wird es, wenn man die beiden Filme als Flügel eines Tryptichons sieht, und sich vorzustellen versucht, was auf dem Hauptpanel erzählt werden müsste.