Cannes 10: COPIE CONFORME von Abbas Kiarostami

William Shimell und Juliette Binoche in 'Copie conforme' von Abbas Kiarostami
William Shimell und Juliette Binoche in 'Copie conforme' von Abbas Kiarostami

Kiarostami in der Toscana? Eine Paargeschichte mit Juliette Binoche als Galeristin und einem britischen Buchautor? Kunsttheorie und Beziehungsdiskussionen? Die ersten zehn Minuten setzt Kiarostami alles daran, die Vorurteile am Leben zu halten. Der Vortrag des Schriftstellers ist so pompös wie banal, der junge Sohn der Galeristin ist zuerst quengelig, dann altklug, und als der Schriftsteller die Galeristin dann in ihrem Laden besucht und sie ihn mit dem Auto auf einen Ausflug nach San Gimigniano mit nimmt, fliegen die Erwartungen schon sehr niedrig zwischen den Zypressen durch. Aber dann hält eine alte Wirtin der Frau einen kurzen Vortrag darüber, was wichtig sei an einer Ehe und was nicht. Und die Frau lässt die Alte im Glauben, der Schriftsteller sei ihr Gatte. Und der Schrifsteller spielt mit. Und der Film hebt ab. Plötzlich flammen die Dialoge auf, rinnen Binoche einzelne Tränen übers Gesicht, plötzlich gibt ein Wort das andere, und die Sätze beginnen zu leben, zu schmerzen.

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Cannes 10: BIUTIFUL von Alejandro González Iñárritu

Javier Bardem in 'Biutiful'

Oi. Hiob im Kino. Als die Coen-Brothers A Serious Man auf uns losliessen, war leicht zu verstehen, warum wir diesem Unglücksraben als Zuschauer beim Unglücken zuschauen wollten. Das war, wo nicht zynisch, so doch saukomisch. Meist. Und treffend auch. Aber nun hat uns Alejandro González Iñárritu mit Biutiful ein Rätsel aufgegeben. Mit beträchtlichem künstlerischem Aufwand (und bei ungerührter Betrachtung erfolgreich) hat er den bisher stärksten Film des Wettbewerbs gemacht – und den deprimierendsten. Der von Javier Bardem verkörperte Uxbal lebt in der dreckigen Unterwäsche von Barcelona, er hat eine manisch-depressive Ex-Frau und zwei Kinder, Prostata-Krebs mit malignen Metastasen im letzten Stadium, die Verantwortung für ein Strassenhändlernetz aus illegalen Afrikanern und schliesslich die Schuld am Tod von fünfundzwanzig Menschen aus China, die in einem Keller ersticken. Und er hat eine Gabe, die das alles noch schlimmer macht: Er kommuniziert mit Toten.

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Cannes 10: CLEVELAND VS. WALL STREET von Jean-Stéphane Bron

'Cleveland vs. Wallstreet' ©Christopher First
'Cleveland vs. Wallstreet' ©Christopher First

Der Westschweizer Filmemacher Jean-Stéphane Bron ist schweizweit bekannt geworden mit seinem Mais im Bundeshuus. Nun hat Bron Chancen auf eine internationale Karriere, denn sein Timing und sein Thema sind nahezu perfekt. Er hat zwei Jahre lang versucht, den Schweizer Banken dokumentarisch beizukommen, bis er entmutigt aufgab – und auf den Fall der Stadt Cleveland in Ohio stiess, welche beschlossen hatte, 21 Wall Street Banken im Sub-Prime-Mortgage-Debakel zu verklagen. Der Prozess wurden von den Banken mittels Verzögerungstaktik erfolgreich abgewehrt, aber Bron hat ihn mit den realen Protagonisten vor Ort inszeniert. Das Resultat ist eine faszinierende Lektion von Grund auf. Nach diesem Film weiss man nicht nur, wie die katastrophalen Geldinstrumente funktionierten und wer sie in Betrieb genommen hat, sondern auch, wie sie sich konkret ausgewirkt haben. Ich habe Bron nach der Premiere getroffen und für Echo der Zeit einen Beitrag gemacht, den es hier zu hören gibt.

Cannes 10: Empfang Filmfestival Locarno

Locarnos Olivier Père
Locarno-Chef Olivier Père (in weiss) beim Netzwerken ©sennhauser

Das die Festivals an anderen Festivals kleiner oder grössere Empfänge veranstalten, gehört zur üblichen PR und Vernetzungsorganisation. Das Filmfestival Locarno, das mit seinem neuen Direktor Olivier Père in eine neue Ära startet, war in den ersten Festivaltagen ungewohnt präsent mit Inseraten in den Trade Papers: „Size does count“, verkündeten die Affichen, mit Blick auf die Leinwand auf der Piazza Grande. Auch wenn wir eher die Formulierung „Size does matter“ erwartet hatten: Die Ironie beim Kleinsten der Grossen sitzt. Und Olivier Père, wie gewohnt im blütenweissen Leinenanzug, war heute Abend zwei Stunden lang omnipräsent an der plage des palmes, hat Hände geschüttelt und Leute vernetzt:

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Cannes 10: Cuban Zombies – Boy Meat Girl – Schlockwerte 1

Schlock00 Banner Zombies

Auf die Produzenten gezielter Geschmacklosigkeiten kann man sich auch in Krisenjahren verlassen, selbst wenn in aller Regel die Plakate für diese Schlock-Filme viel unterhaltsamer sind, als die Werke selber. Wer kann schon einer Werbezeile wie „Boy. Meat. Girl“ widerstehen, oder dem Gedanken daran, dass die letzten Helden der kubanischen Revolution als Zombies ihre Mission zu Ende bringen möchten? Nach dem Sprung die ersten Bilder aus den Katakomben des Filmmarktes.

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Cannes 10: UNTER DIR DIE STADT von Christoph Hochhäusler

Hunger Buehler Krebitz in Unter Dir die Stadt

Käme dieser Film aus England oder Frankreich, wäre er wahrscheinlich im Wettbewerb gelandet. Aber, wie ein geschätzter Kollege zu Recht angemerkt hat: So wie er aussieht, dermassen abstrakt, rigide, senkrecht und waagrecht, heisskalt und gläsern, kann er nur aus Deutschland kommen. Unter Dir die Stadt ist eine eine Liebe-lose amour fou-Geschichte, ein durchgezählter letzter Tango in Frankfurt, der erste und letzte Versuch einer Menschwerdung bei einem Top-Banker – je nach Interpretation und Standpunkt. Robert Hunger-Bühler spielt diesen Roland Cordes, dem die junge Frau eines jungen Mitarbeiters passiert. Oder der an ihr etwas ansteckt. Oder sie mit ihm. Hochhäuser, Glastürme, Businessmeetings auf höchster Ebene – das alles ist die Kulisse, die Bühne, der Hintergrund ohne Vordergrund. Denn was sich abspielt zwischen dem Banker und der Frau, das bleibt auch abstrakt, selbst dann, wenn es glasklar inszeniert zur Sache geht.

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Cannes 10: ANOTHER YEAR von Mike Leigh

Another Year Tom and Gerri

Mike Leigh seine Goldene Palme auf sicher: Jene für Secrets and Lies, die er 1996 gewonnen hat. Für den neuen Film wird er wohl keine zweite bekommen, dafür dürfte Another Year beim Publikum gut ankommen. Es ist ein klassischer Mike-Leigh-Film, eine Geschichte rund um ganz gewöhnliche Menschen, in der nichts aussergewöhnliches passiert. Tom und Gerri sind ein glücklich verheiratetes Paar um die Sechzig, die meisten ihrer Freunde und Verwandten sind einsam und alleine, und so dreht sich fast der ganze Film um die Besuche der Einsamen bei den Glücklichen, um deren Anteilnahme und ihr leises Bedauern. Entwickelt wurde der Film nach Leighs üblicher Methode, zusammen mit den Schauspielern auf Grund einer einfach skizzierten Ausgangslage, in Improvisationen über Wochen hinweg. Leigh hat es immer verstanden, die Emotionen zu schüren und zu steuern bei seinem Publikum, hin und wieder hat er sie auch leise manipuliert. Aber noch nie mit dieser Art von Sentimentalität, die er hier wirken lässt.

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Cannes 10: Ritter oder Robocop?

Ritter quer

Auffallen ist alles, wenn man hier etwas unter die Leute bringen will. Ob allerdings der Eingang zur Filmmarktakkreditierung der richtige Ort ist, um Werbung zu machen für Studentendarlehen? Vielleicht schon. Vielleicht steckt da ja ein filmisches Drama unter der Rüstung. Denn wenn der junge Mann seine Darlehens-Schulden zurückzahlen will, muss er ja irgendwie Geld verdienen. Und dafür ist er jetzt eben gut gerüstet – in Plastik.

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Cannes 10: CHATROOM von Hideo Nakata

Chatroom Hideo Nakata 03

Seit seiner Uraufführung in London 2005 hat das Bühnendrama „Chatroom“ des Iren Enda Walsh ein Eigenleben entwickelt. Vor allem für junge Truppen und Nachwuchstheater war und ist das ein attraktives Stück. Auch am Theater Basel wurde das Stück mit jungen Darstellerinnen und Darstellern und gutem Erfolg inszeniert. Die Ausgangslage ist bestechend simpel und lässt viel Raum für inszenatorische Kniffe: Ein Gruppe Jugendlicher lernt sich online kennen, trifft sich immer wieder im gleichen Chatroom, und schliesslich laufen die üblichen Machtspielchen aus dem Ruder – zumal es so überaus leicht und verführerisch ist, sich eine wie auch immer geartete Online-Persönlichkeit zuzulegen. Was passiert nun, wenn der Japaner Hideo Nakata, der Schöpfer der Ringu-Trilogie, sich mit dem Stoff auseinandersetzt?

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Cannes 10: WALL STREET – MONEY NEVER SLEEPS von Oliver Stone

Michael Douglas und Shia LaBoeuf in Wall Street 2

23 Jahre nach dem Original sind Oliver Stone und Michael Douglas alias Gordon Gekko wieder da, mit der Fortsetzung, die zunächst das Leben, bzw. die Realität geschrieben hat. „Neben diesen Typen von heute war ich ein kleiner Fisch“, erklärt der seinerzeit für Insider-Geschäfte verurteilte Gekko mit Blick auf die Machenschaften, welche zur Sub-Prime-Krise und in der Folge der bisher grössten globalen Bankenkrise geführt hat. Das ist natürlich ein wunderbarer Kinostoff, nur schon darum, weil Stone nicht nur seinen Original-Film als visionär re-etablieren kann, sondern ganz schamlos so tun, als ob Wall Street eigentlich alles, aber wirklich alles schon vorausgesagt hätte. Und vielleicht trifft das ja sogar zu. Denn die Mechanismen, die Finanzinstrumente, die globalen Entwicklungen werden auch in diesem Film wieder so sehr vereinfacht, dass ein Laienpublikum recht gut ausmachen kann, wer wo warum zu den Bösen und Gierigen gehört. Wie aber perpetuiert man die eigene Legende?

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