Cannes 09: Oh Glamour!

Cannes National Room

„Grüss mir die Isabelle Huppert!“ hat da einer vor meiner Abreise geblödelt, und andere formen – wider besseres Wissen – Wolken von Glamour, Glanz & Gloria im Kopf, wenn unsereins erklärt, dass man schon wieder nach Cannes fliege. Und ja: Es ist ein Privileg, es ist der Höhepunkt des Filmjahres. Und dafür nimmt man gerne auch ein Hotelzimmer mit Dachluke in Kauf, sechs Quadratmeter mit Klappstuhl, für 110 € die Nacht, ein Zimmer, für das während des restlichen Jahres die Hälfte fällig wäre, und das auch dann niemand wirklich wollen würde. Seit meinem ersten Cannes-Besuch wohne ich jedes Jahr in diesem kleinen Kasten, jedes Jahr buche ich gleich für das nächste Jahr vorsorglich wieder, denn wer hier kein Zimmer hat im Herbst, der baut sich keines mehr … oder so war es zumindest, in den letzten Jahren.

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Cannes 09: Alte Meister

cannes plakat 2009

Wir sind im Landeanflug, metaphorisch zumindest, euphorisch auf jeden Fall. Die klingenden Namen des diesjährigen Wettbewerbs verweisen darauf, dass Filmjahrgänge oft wie Maikäfer-Flugjahre daherkommen: Manche Jahre ist keiner zu sehen, dann fliegen sie wieder wie wild. Pedro Almodovar, Ken Loach, Quentin Tarantino, Jane Campion (die bisher einzige Palmengewinnerin), aber auch Andrea Arnold (deren raffiniertes Überwachungskameradrama Red Road uns 2006 schon beeindruckt hatte). Park Chan-wook, der Rachbrüter aus Südkorea, kommt mit Vampiren, und Ang Lee geht zurück nach Woodstock.

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Nyon 09: Wie dokumentiere ich das Unabbildbare?

The Sound of Insects by Peter Liechti
'The Sound of Insects - Record of a Mummy' von Peter Liechti

Heute Mittwochabend geht die diesjährige Ausgabe von «Visions du réel» in Nyon mit der Preisverleihung zu Ende. Es war die 40. Ausgabe des international renommierten Dokumentarfilmfestivals am Genfersee, und gleichzeitig die 15. unter der Leitung von Jean Perret. In Reflexe morgen blicken wir zurück auf die Jubiläumsausgabe und fragen drei Filmemacher nach der Art, wie sie das Unabbildbare in ihren Filmen dokumentiert haben: Peter Liechti das Sterben eines Selbstmörders in The Sound of Insects, Jos de Putter die virtuelle World of Warcraft in Beyond the Game und Richard Brouillette den Neoliberalismus in L’encerclement.

Donnerstag, 30. April 2009, 11.00-11.30, DRS2
Donnerstag, 30. April 2009, 22.00-22.30, DRS2

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Nyon 09: Cooking History

cookinghistory

Wie man mit Frechheit, Einfallsreichtum und minimalsten Mitteln einen ebenso unterhaltsamen wie nachdenklichen Dokumentarfilm machen kann, hat hier an den Visions du réel in Nyon Peter Kerekes mit Cooking History gezeigt. Er folgt den grossen Konflikten des 20. Jahrhunderts über die Erinnerungen jener, die für die Armeen gekocht haben, den Feldköchen, ihren Gulaschkanonen und Erinnerungen an U-Boot-Kombüsen. Im Zentrum stehen auch bei Kerekes die Veteranen und ihre Erinnerungen, die klassischen Talking Heads eben. Aber er lässt sich nicht einfach in die Kamera reden, sondern er inszeniert sie. Entweder in einer Küche beim Kochen, oder – zum Beispiel – auf der Flucht durch ein Maisfeld, komplett mit verfolgendem Panzer. Er geht aber noch weiter. Wie auf dem Foto oben ersichtlich, hat er den einstigen U-Boot-Smutje mit einem Klapptisch und einem Gasbrenner an den Strand gestellt, kurz vor Eintreffen der Flut. Während der Mann seine panierten Koteletts brät, steigt der Meeresspiegel.

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Nyon 09: Die Frau mit den 5 Elefanten

Swetlana Geier und Enkelin

Die fünf Elefanten sind die fünf grossen Romane von Dostojewski, die Frau ist Swetlana Geier, die gefeierte Übersetzerin, welche dieses Riesenwerk für die deutsche Sprache komplett neu erschlossen hat. Der Basler Filmer Vadim Jendreyko (Bashkim) hat die 85jährige in ihrem Haus in Freiburg besucht und ist schliesslich mit ihr zurück an die Orte ihrer Kindheit gereist, in die Ukraine, nach Kiew. Mit 15 pflegte sie in der Familiendatscha ihren sterbenden Vater, der aus Stalins Gefängnissen als Folteropfer entlassen worden war. Sie lernte Deutsch auf Veranlassung ihrer Mutter, was den beiden Frauen zu Gute kam nach dem Einmarsch der Nazi in Kiew, und ihnen schliesslich half, in Deutschland eine neue Existenz aufzubauen, nachdem Kiew von den Sowjets zurück erobert worden war. Denn „im Land der Mörder meines Mannes“ wollte Swetlanas Mutter nicht bleiben. Vadim Jendreykos Film, der gestern an den Visions du réel in Nyon seine Uraufführung hatte, ist vollständig um die charismatische alte Frau herum aufgebaut.

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Nyon 09: L’encerclement – la démocratie dans les rets du néoliberalisme

l'encerclement Plakat

Nachtrag vom 29. April 2009: Grand prix des Visions du Réel Nyon 2009

Die Umzingelung – Die Demokratie in den Fängen des Neoliberalismus. Was für ein Titel. Und was für ein Film! Visions du réel in Nyon hat das Publikum und die Tradition für solche filmische Parforcetouren. Und so haben wir uns heute 160 Minuten lang von analytischen Köpfen wie Ignacio Ramonet, Noam Chomsky oder Susan George anregen lassen, das moralische und ethische Chaos in unseren eigenen Köpfen eventuell ein wenig neu anzuordnen. In zwei Teilen und zehn Kapiteln lässt der junge Kanadier Richard Brouillette 13 Fachleute, Vor-, Nach und Durchdenker des Kapitalismus zu Wort kommen, eingebetten in die Musik Eric Morins, in einer Konstruktion, welche Jean Perret, der Direktor des Festivals als „théâtre de la parole articulée“ bezeichnet, als Theater des geprochenen Wortes.

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Nyon 09: The Sound of Insects – Record of a Mummy

TheSoundofInsects

Peter Liechti (Hans im Glück) gehört beharrlich zu den eigenwilligsten Schweizer Filmemachern. Seine stets sehr persönlich gehaltenen Filme sind zwar verankert im Dokumentarischen, entwickeln aber meist einen musikalischen Gedankenfluss. The Sound of Insects, der gestern am Dokumentarfilmfestival Visions du réel in Nyon seine Uraufführung hatte, gehört zu Liechti bisher perfektesten Filmen. Mit seinem Stab von zuverlässigen, eben so beharrlichen und im Tüfteln verankerten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hat er um einen Text des Japaners Shamada Masahiko ein Gesamtkunstwerk errichtet. Im Kern steht das Tagebuch eines Selbstmörders, eines Mannes, der sich in den Wald zurückgezogen hat, um sich dort zu Tode zu hungern.

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Nyon 09: Geburt

Geburt von Haselbeck/Langjahr

Letztes Jahr lief hier in Nyon Constantin Wulffs In die Welt, der danach vielfach ausgezeichnet wurde, von Douglas Wolfsperger gab’s Der lange Weg ans Licht, und jetzt hat Silvia Haselbeck (mit Unterstützung ihres Lebenspartners Erich Langjahr) ebenfalls das Wunder der Geburt dokumentiert. Zunächst einmal ist das tatsächlich der Film einer Frau, während die beiden erwähnten Vorgänger ganz klar Werke von Männern waren, ist Geburt unverkennbar von der weiblichen Perspektive geprägt. Und nun muss ich aufpassen, wie ich weiter formuliere, denn ich bin schon mitten im Minenfeld …

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Nyon 09: Pizza in Auschwitz

pizzainauschwitz

Dokumentarfilme rund um den Holocaust haben meist ihren getragenen Ton und ihr ganz spezielles, unangreifbares Pathos. Pizza in Auschwitz von Moshe Zimerman ist anders. Der weit über 70jährige Danny aus Israel gehört zur zweiten Sorte dewr Holocaust-Überlebenden, zumindest nach der Einteilung der zweiten Generation, der auch seine Tochter und sein Sohn angehören. Die eine Sorte redet nie über die schreckliche Vergangenheit, die zweite hört nie mehr auf damit. Danny hat seine Kinder mit dem Holocaust aufgezogen, Birkenau und Auschwitz gehörten zu ihren Gute-Nacht-Geschichten. Jetzt erfüllt er sich einen Lebenstraum und reist mit seinen beiden Kindern und einem Filmteam zurück nach Polen, in die Vergangenheit, an die Orte seiner Kindheit, ins Ghetto, und schliesslich von Lager zu Lager.

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Nyon 09: Geigen gegen Gangs – El sistema

elsistema

Über die völker- und menschenverbindende Kraft der klassischen Musik und der Orchesterarbeit sahen wir einige Dokumentarfilme in den letzten Jahren. Am erfolgreichsten in dem Genre war Rythm is it! von Grube und Lansch, welcher zeigte, wie die Berliner Philharmoniker mit Hilfe eines britischen Ballett-Magiers die Kids von der Strasse in die Hochkultur holten. El sistema von Paul Smacny und Maria Stodtmeier geht zu den Wurzeln der Bewegung, zu José Antonio Abreu, welcher in Venezuela ab 1975 eine Vielzahl von Orchesterschulen gründete. Das grösstenteils staatlich finanzierte System bindet die Kinder frühzeitig in eine Orchestergemeinschaft ein, gibt ihnen ein Gemeinschaftsgefühl, Ziele und Lebensfreude. Und es sorgt dafür, dass die Eltern zu Verbündeten werden im Kampf gegen die Gang-Bildung in den Slums. Der Eröffnungsfilm des diesjährigen Dokumentarfilmfestivals Visions du réel in Nyon hat ein grossartiges Sujet und – mit den vielen leuchtenden Kindergesichtern – eine Art eingebaute Publikumsgarantie.

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