Nyon 09: Geburt

Geburt von Haselbeck/Langjahr

Letztes Jahr lief hier in Nyon Constantin Wulffs In die Welt, der danach vielfach ausgezeichnet wurde, von Douglas Wolfsperger gab’s Der lange Weg ans Licht, und jetzt hat Silvia Haselbeck (mit Unterstützung ihres Lebenspartners Erich Langjahr) ebenfalls das Wunder der Geburt dokumentiert. Zunächst einmal ist das tatsächlich der Film einer Frau, während die beiden erwähnten Vorgänger ganz klar Werke von Männern waren, ist Geburt unverkennbar von der weiblichen Perspektive geprägt. Und nun muss ich aufpassen, wie ich weiter formuliere, denn ich bin schon mitten im Minenfeld …

Der Anfang des Films beschwört mythische Kräfte, mit Aufnahmen von Höhlen in Italien, welche Silvia Haselbeck, wie sie im Kino erklärte, unter anderem an Gebären und Geburt erinnerten. Darauf folgen Geburtsvorbereitungen zweier Paare, die sich bereit erklärt haben, das Filmteam (Haselbeck und Langjahr) bei der Geburt filmen zu lassen: Liebevolles Schwangerschaftsturnen mit den Ehemännern, Massagen, eine lange ausgedehnte Fussreflexzonenmassage (welche an das Bauen der Holzschuhe in Langjahrs Wildheuer-Film erinnert), Untersuchungen durch die Hebammen, und mit Ultraschall, und schliesslich die beiden Geburten, nicht in einer Klinik, sondern zuhause, und weitgehend in Echtzeit. Das Gewicht liegt im Erlebnis des werdenden Lebens, der Geburt, der Schmerzen auch. Manchmal wirkt der Film wie das schön gemachte Fotoalbum einer Familie, mit den Geburtsbildern, welche die Kinder später wohlig schaudernd wieder angucken werden, die man aber als Aussenstehender nicht unbedingt sehen möchte. Nicht wegen des Anblicks (der ist mehr als erträglich bei diesen beiden Geburten), sondern darum, weil man sich selten stärker als unberechtigter Zuschauer fühlen dürfte, als bei solchen Geburtsszenen mit Mann, Frau, Hebamme und schliesslich Kind. Sexszenen im Kino Spielfilm haben jegliche Intimität verloren, es ist mittlerweile eine Leistung, wenn ein Regisseur die wieder hinkriegt. Die Geburten in Geburt dagegen wirken wirklich intim, sie sind durchaus ein Erlebnis, aber eines, das ich nur zögernd annehme. Das ist zugleich die Qualität und das Problem dieses Films: Er hat etwas Schwärmerisches, ohne wirklich etwas zu beschönigen. Ausser dem Umstand, dass ich, die Kamera, das Kinopublikum, bei diesen Vorgängen eigentlich nichts verloren haben.

Geburt Silvia Haselbeck Erich Langjahr

6 Antworten auf „Nyon 09: Geburt“

  1. Den Film «Geburt» von Silvia Haselbeck und Erich Langjahr habe ich bereits zweimal gesehen. Das erste Mal im kleinen Kino der Swissfilm in Zürich und dann am vergangenen Freitagnachmittag in Nyon. Erneut war ich so tief berührt und bewegt, dass bei mir bei beiden Geburten die Tränen flossen.

    Deshalb: Den Film «Geburt» als «Minenfeld» zu bezeichnen, finde ich total unverständlich und nach meiner persönlichen Meinung eine absolute Frechheit.

    Warum? Weil ich erstens selber bei beiden Geburten meiner Töchter Martina (33) und Daniela (31) dabei war. Diese beiden Geburten waren für mich bis jetzt das Allergrösste im meinem Leben. Und zweitens, weil unsere beiden Enkel Iwan (6) und Craig (2) für meine Gattin und für mich ein echter Jungbrunnen sind. Und drittens meine Tochter Daniela im September 2009 ein drittes Kind gebären wird.

    Deshalb meine Frage an Michael Sennhauser: Hat er denn selber Kinder? Wenn nicht, so finde ich seine Filmbesprechung deplatziert, hochnäsig und
    überheblich. Und wenn er solche hat, wirkt seine Kritik für mich noch viel Befremdlicher.

    Denn: Gerade diese Intimität verleiht dem Film «Geburt» etwas Grossartiges und Einmaliges. Das packende Werk von Silvia Haselbeck und Erich Langjahr hat in jedem Fall einen Öffentlichkeits-anspruch.

    Und zum Schluss noch dies: Ich habe den Film «In die Welt» an den Solothurner Filmtagen im Kino «Canva» zusammen mit Silvia Haselbeck und Erich Langjahr gesehen. Mein damaliger Kommentar den beiden Filmemachern gegenüber: «Dies ist ja der reinste Horrorfilm. Dieser Film schreckt ja jedes Mädchen ab, überhaupt ein Kind auf die Welt zu bringen.» Dass dieser Film Auszeichnungen bekommen hat, finde ich persönlich völlig unverständlich.
    Christian Murer-Zuber, Urdorf

  2. @ C. Murer-Zuber: Es freut mich sehr, wenn Ihnen die Intimität des Films ein einmaliges Erlebnis beschert hat. Was mich etwas wundert, ist Ihr Eindruck, ich sei dem Film zu nahe getreten. Ich bezeichne keines wegs den Film als „Minenfeld“, sondern mache klar, dass die Wortwahl zur Beschreibung des Filmerlebnisses ein Minenfeld darstellt. Und das bestätigen Sie mir mit Ihrer Reaktion. Und die Behauptung, dass nur jemand, der selber Kinder hat, über die Kompetenz verfüge, sich über den Film ein persönliches Urteil zu bilden, finde ich heikel. Es würde bei den meisten Dokuemtarfilmen die Kompetenz des Publikums massiv einschränken, wenn nur die ganz persönliche, direkte Lebenserfahrung das Filmverständnis überhaupt ermöglicht. Es gab hier in Nyon einen Film, der diesen Konflikt ziemlich betont: „Pizza in Auschwitz“ Da antwortet die Tochter dem Vater, einem Holocaust-Überlebenden, ziemlich verzweifelt, er solle doch froh sein, dass seine Kinder ihn lieben, auch wenn sie seinen Schmerz nie ganz verstehen könnten. Denn er, der Vater, würde sich doch kaum wünschen, dass seine Kinder diesen Schmerz teilen mönnten, d.h. seine Erlebnisse auch hätten durchmachen müssen. Die grossartige LEistung von Dokuemtarfilmen ist ja gerade, dass sie stellvertretend Dinge nachvollziehbar machen. Und das gelingt Haselbeck/Langjahr ja gut mit „Geburt“. Wenn mir persönlich das Erlebnis zu intim erscheint, ist das wiederum eine sehr persönliche Feststellung. Ganz ähnlich wie bei Ihnen, wenn sie Wulffs „In die Welt“ als Horrorfilm empfinden.

  3. Lieber Michael, lieber Christian,
    Ich habe aus medizinischen Gründen, mit denen ich niemanden langweilen möchte, selbst nie Kinder gebären können. Ich habe mir den Film letzten Freitag in Nyon auch angeschaut, und ich muss sagen, ich bin von Deinem Kommentar genauso befremdet wie Christian Murer.
    Ich spreche Dir keineswegs die Berechtigung ab Deine Gefühle zu äussern, ich störe mich aber als Frau, die sich seit den Siebzigern an vorderster Front in der Frauenbewegung engagiert hat und die Zeit ihres Lebens auf der Parität der Geschlechter bestanden hat und diese auch in der eigenen Paarbeziehung zu leben versucht, immer wieder an einer gewissen Wortwahl.
    Wie kann man im 21. Jahrhundert jemanden noch dafür kritisieren, dass er eine Geburt als das darstellt was sie ist: ein Stück Natur, das genau so selbstverständlich zu einem Leben gehört wie die komplementärmedizinischen Praktiken, die die beiden Paare anwenden, die Präsenz der anderen Kinder im Geburtsraum, oder eben auch die Tatsache, dass man halt aus welchen Gründen auch immer keine Kinder hat?! Endlich wagt es jemand bei einer Geburt das Wort Mysterium NICHT in den Mund zu nehmen und sie nicht zu verbrämen, und schon wird er von der Kritik und der Geistlichkeit eingeholt und an die Tradition gemahnt. Grrr, da stehen mir die Haare zu Berg!
    Ich jedenfalls habe zu Silvia Haselbeck kein anderes Verhältnis als vorher, bloss weil ich sie im Film nackt mit Babybauch gesehen habe, und ich fühle mich ob dem Film weder in der Intimität meiner Paarbeziehung noch sonstwie gestört und konnte auch mit den anwesenden Protagonisten problemlos diskutieren. Möchten doch alle die Welt so unverkrampft sehen, mir wäre es darin wesentlich wohler!
    Mit lieben Grüssen
    Barbara

  4. In einem gebe ich Michael Sennhauser recht. Wenn ich einen Artikel über Gefängnisse verfasse, muss ich ja nicht unbedingt hinter Gitter gewesen sein.
    Oder wenn ich über den Holocaust berichte, ist ja ein überlebter «Aufenhalt» in den Stätten des Grauens von Auschwitz-Birkenau, Dachau oder Mauthausen nicht Voraussetzung für ein gelungenes Feature.

    Ganz anders ist dies hingegen bei einer Geburt, wo ich als Vater hautnah und hörbar eins zu eins dabei bin. Dieses grossartige Geschehen erlebe ich daher als unmittelbar Betroffener.

    Und so ist dies auch beim Film «Geburt» von Silvia Haselbeck und Erich Langjahr der Fall.
    Die Filmemacherin hat selbst zwei Söhne zur Welt gebracht. Und ihr Mann hat diese beiden Geburten ebenfalls live erlebt. Daher kommt für mich der Film auch höchst glaubwürdig und in dieser Form wirklich einmalig und grossartig daher. Und zwar ohne Wenn und Aber.

    So wünschte ich dem Filmkritiker Michael Sennhauser, dass er einmal selber Kinder hat und bei der Geburt dabei sein kann. Übrigens: Da schweigt er sich nämlich geflissentlich aus.
    Dann würde er bestimmt ganz anders schreiben. Und nicht aus lauter Verlegenheit auf den Film «Pizza in Auschwitz» ausweichen. Etwas mehr Gemüt, Herz, Betroffenheit, Einfühlsamkeit und Sensivität anstatt Film theoretisches Geflunker würde ich ihm da wärmstens empfehlen. Sorry, wenn ich so direkt und offen argumentiere.

    Ich bin eben in dieser Hinsicht ein zutiefst Sensibler!

    Christian Murer-Zuber, Urdorf

  5. @ Barbara @ Christian Murer: Schön, wie sich hier die Diskussion entwickelt. Und ich kann eigentlich all die persönlichen Argumente ganz gut nachvollziehen. Mein Problem ist mittlerweile, dass mir immer unklarer wird, womit ich dem Film unrecht tue. Meine einzige wirklich kritische Bemerkung ist der Hinweis darauf, dass mir persönlich das ganze eine Spur zu intim war. Natürlich habe ich auch ein paar formelle Vorbehalte (theoretisches Geflunker?), aber da habe ich mich ja bewusst zurückgehalten. Allzu verlegen hat mich übrigens die Frage nach meinen eigenen Kindern nicht gemacht, aber da dies offenbar doch unabdingbar zu sein scheint, um den Text zu entschlüsseln: Ich war nicht dabei bei der Geburt der beiden Kinder meiner Freundin. Da war der Vater der Kinder dabei.

  6. Lieber Michael Sennhauser und die „Geburtsblogger“
    gern möchte ich den Knoten entflechten helfen, der offensichtlich zu Unrecht beim Film „Geburt“ entstanden ist. Der Film ist mutig und ausgezeichnet; es war auch klar, dass er in der Kritik von Männern und Frauen verschieden wahrgenommen und gewertet wird. Sicher wird es Männer geben, die sich als Voyeure vorkommen; erstaunt hat mich eher die vehemente Klage über ungenügende Betroffenheit oder Verkrampftheit an die Adresse Michael Sennhausers.
    Nichts ist normaler als die gesunde Geburt eines Menschen- samt Glück, Schmerzen, Unsicherheit, auch Leid – also einer Menge Emotionen; und das kommt ganz unaufgeregt über die Leinwand mit dem üblichen Qualitätsanspruch von Silvia Haselbeck und Erich Langjahr. Dass heute Geburten und speziell ihre Vorbereitungen dazu, wie der Film zeigt, so ganz anders stattfinden als z.B. vor 45 Jahren, habe ich als Grossmutter (69) positiv und als Fortschritt empfunden. Wahrscheinlich hätte mich die übertriebene „Bevaterung“ im Gegensatz zur „Bemutterung“ eines Mannes eher gestört, weil wir einst ohne Vaterschaftsurlaub, Wickelkurs für Männer und psychologische Betreuung unsere Kinder auch GEMEINSAM bekommen und erzogen haben und sie natürlich ganz persönlich ein Wunder waren!
    Der Film „Geburt“ rückt das alles in normale Dimensionen, ist weder abschreckend noch ein Gefühlsausbruch esoterischer Verwaschenheit.

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