Vor sechzehn Jahren hat ein siebenundzwanzig Jahre alter Mann in Bern zwei Frauen mit dem Messer attackiert, eine hat den Angriff nicht überlebt. Als man den Täter schliesslich identifizieren konnte, stellte sich heraus, dass er über einen längeren Zeitraum hinweg zunehmend gewalttätig gewesen war. Gleichzeitig wirkte er im Alltag als Koch und Langstreckenläufer gesellschaftlich integriert und erfolgreich.
Wie kann ein Mensch im Alltag umgänglich und hilfsbereit, diszipliniert und als Sportler erfolgreich sein – und im Versteckten gleichzeitig eruptiv brutal und gezielt gewalttätig?
Wer Der Läufer gesehen hat, ahnt, wie unbehaglich ähnlich wir diesem Menschen in unserem eigenen Alltag gelegentlich sein können.
Interessiert habe ihn der Prozess der Abkapselung, sagt Hannes Baumgartner im Informationsheft des Filmverleihs: «Wie sich ein Mensch trotz möglicher Hilfe von aussen immer weiter in die Isolation treibt, wie er keinen Weg findet, seinen gewaltigen inneren Leidensdruck in Worte zu fassen. Der Film soll zeigen, wie die Hauptfigur verzweifelt versucht, diesen immensen inneren Druck durch Sport, Arbeit und Beziehung zu verdrängen – und wie sie durch diesen Verdrängungsprozess zum Gewalttäter wird.»
Hannes Baumgartner setzt dazu auf die «Täterperspektive». Der Läufer bleibt bei seiner zentralen Figur, dem vom einmal mehr überzeugend wirkenden Max Hubacher gespielten Jonas Widmer.
Mit Jonas erleben wir den Alltag mit seiner Freundin (Annina Euling), den Frust über die nicht schnell genug erbrachte sportliche Leistung als Waffenläufer und immer wieder die Begegnung mit seinem Bruder Philipp (Saladin Dellers), der sich, wie sich mit der Zeit herausstellt, umgebracht hat.
Der Läufer ist Hannes Baumgartners erster langer Spielfilm. Über fünf Jahre hinweg hat er den Stoff und die Dramaturgie entwickelt. Unterstützt hat ihn dabei auch der deutsche Dokumentarfilm-Meister Andres Veiel.
Es sind zunehmend intensive Szenen, mit denen dieser Film sein Publikum in Bann schlägt. Zu Beginn irritieren alltägliche Kleinigkeiten. Jonas’ Verbissenheit beim Trainieren. Die Erinnerungen an seinen Bruder, die leicht irreal wirken. Seine Schwierigkeiten, mit seiner Freundin über mehr als Äusserlichkeiten zu reden.
Das alles steigert sich. Am Arbeitsplatz reagiert die von Luna Wedler gespielte Laura zunächst frölich und aufgeschlossen auf die Avancen des jungen Kochs. Bis sie merkt, dass er eine Freundin hat. Die deutliche Abfuhr, die sie ihm danach erteilt, provoziert unerwartet heftige Reaktionen bei Jonas.
Und doch wirkt der erste Handtaschen-Raub an einer Frau noch spontan, klar irrational, auch für Jonas überraschend in seiner brutalen Impulsivität.
Schauspielerisch und inszenatorisch erreicht Der Läufer eine Intensität, die verblüfft und erschreckt. Dabei ist das keine jener nüchtern kalten Rekonstruktionen für die etwa Richard Brooks’ In Cold Blood nach Truman Capote stilbildend gewirkt hat.
Hannes Baumgartner schafft viel mehr eine unbehagliche Nähe zwischen diesem Jonas und uns. Das liegt einerseits an der klaren Verortung in Bern, in unserem wohlbekannten Schweizer Alltag. Der Film ist zeitlich in der Gegenwart verordnet, vermeidet jede Historisierung.
Aber wirklich überzeugend ist ein Effekt, über den man sich im Kino selten Rechenschaft ablegt: Unsere Sehnsucht nach einer Identifikationsfigur in jeder Geschichte sorgt dafür, dass wir uns bereitwillig auf negative Helden einlassen – solange der Film ein geschlossenes emotionales System anbietet, eine Sandbox.
Das tut Baumgartner mit Der Läufer nun allerdings nie. Wir sind nicht gehalten, diese Figur zu verstehen, Jonas versteht sich selber nicht. Es genügt, dass wir seine Impulse nachvollziehen können, seine explosive Wut, die sich Bahn bricht, sich kanalisiert in der gezielten Gewalt gegen unbekannte Frauen.
Jonas’ Unfähigkeit, dem Impuls zu widerstehen, kennen wir aus unserem eigenen Alltag. Wer hat sich nicht schon verflucht wegen momentaner Disziplinlosigkeit, sei es beim Prokrastinieren, beim zwanghaften Essen, bei der Unfähigkeit, die eigene Wut über eine Kränkung zurückzuhalten?
Jonas flüchtet sich als Sportler in extreme Disziplin. Das geht so weit, dass ihm der Arzt nach einer Verletzung das Training verbieten muss. Und seinen Albträumen kommt er schliesslich nur noch mit Tabletten bei, seine Kommunikationsunfähigkeit wirft ihn dauernd auf sich selbst zurück.
Das ist kein Film, der Verständnis weckt für einen Mörder. Wenn Der Läufer etwas bewirkt, dann ist es Unbehagen, Verunsicherung. Wenn der Film eine Ahnung weckt, dann die, dass niemand von sich behaupten kann, er komme autonom, ohne Aussenwahrnehmung und deren Kommunikation, gesund durchs Leben.
Nach der Weltpremiere am Festival von San Sebastian, einer Griechenland-Premiere am Athens International Film Festival und der heutigen Schweizer Premiere am Zurich Film Festival kommt Der Läufer am 4. Oktober in die Deutschschweizer Kinos.