CRONOFOBIA von Francesco Rizzi

Sabine Timoteo © Cineworx

Eine Frau, die sich der Gegenwart verweigert, trifft auf einen Mann, den seine Vergangenheit quält. Sabine Timoteo und Vinicio Marchioni in einer Un-Liebesgeschichte. Cronofobia heisst der heisskühle Spielfilmerstling des Tessiners Francesco Rizzi.

Cronofobia beginnt damit, dass wir einen Mann beobachten, der eine Frau beobachtet. Der Mann heisst Suter, einen Vornamen für ihn bekommen wir auch später nicht. Er parkiert seinen Van in der Nacht vor dem luxuriösen Tessiner Haus der Frau, er sitzt als Kunde getarnt im Coiffeursalon, in dem sie arbeitet. Er schaut von weitem aus dem Auto zu, wenn sie in der Dunkelheit der Nacht joggen geht. Und er hört zu, wenn sie an einer Bahnschranke regelmässig den durchbrausenden Schnellzug abwartet, um verzweifelt in den Lärm hinein zu schreien.

Vinicio Marchioni © Cineworx

Die Frau heisst Anna. Sie ist seit kurzem Witwe, das erfahren wir später. Und Suter ist kein gewöhnlicher Stalker, es ist sein Gewissen, das ihn treibt, seine Sorge um Anna, die ihn ihrerseits nicht kennt.

Als «Chronophobie» bezeichnet man die gesteigerte Angst davor, dass die Zeit vergeht. Eine alltägliche Spielart der Chronophobie wäre etwa die sogenannte «Torschlusspanik».

Vinicio Marchioni, Sabine Timoteo © Cineworx

Für seinen ersten Spielfilm hat der Tessiner Francesco Rizzi eine Geschichte geschrieben, um einen Mann ohne Wurzeln und Vergangenheit, und eine Frau, die seit dem Tod ihres Mannes keine Gegenwart mehr hat.

Suter lebt von Tag zu Tag, als sogenannter Mystery-Shopper, eine Art Detektiv, der im Agentur-Auftrag im Detail-Handel unehrliches Verkaufs-Personal überführt – stets perfekt verkleidet, mit aufgeklebtem Bärtchen oder Schnauz, und mit Aufnahmegerät in der Tasche.

Manchmal allerdings löscht er die belastende Aufnahme, etwa jene einer Uhrenverkäuferin, die ihm unter der Hand einen günstigeren Preis verspricht – was sie die Markenkonzession kosten könnte. Und in einem Fall versucht er gar, den von Leonardo Nigro gespielten Verkäufer zu warnen. Vergeblich, mit schrecklichen Folgen.

© Cineworx

Suter ist «on the road», lebt in seinem Van und hin und wieder im Hotel, bewegt sich im gesichtslosen Niemandsland von Einkaufszentren, Tankstellen und Autobahnraststätten. Er ist allein, aber immer unter Menschen.

Anna dagegen will seit dem Suizid ihres Mannes niemanden mehr sehen. Sie schickt sogar wütend ihre besorgten Eltern weg, als diese am Tor klingeln. Als sich diese weigern, wieder weg zu fahren, steigt Anna spontan zu Suter in den Van und herrscht ihn an, loszufahren.

Und da, im Auto, passiert etwas Unerwartetes. Die Frau, die in ihrer Wohnung nichts mehr angefasst hat von den Sachen ihres Mannes, die seine Kleider hat hängen lassen, seinen Teller auf dem Tisch stehen, Anna, die seit Monaten nicht mehr schlafen kann… sie schläft ein auf dem Beifahrersitz, beim beruhigenden Geräusch des Regens und der Scheibenwischer.

Vinicio Marchioni, Sabine Timoteo © Cineworx

Die «Chronophobie» des Titels bestimmt das Leben der von Sabine Timoteo gespielten Anna genauso, wie das des von Vinicio Marchioni verkörperten Suter. Sie verweigert sich der Gegenwart, er flieht vor der Vergangenheit.

Mit seinem Kameramann Simon Guy Fässler findet Rizzi die richtigen Bilder für das Mystery-Drama um zwei Menschen, die mehr verbindet, als sie voneinander ahnen.

Suter bewegt sich in der anonymen Welt von Autobahnraststätten und sterilen Hotels, Anna brütet in der Dämmerung ihrer zum Mausoleum gewordenen Tessiner Luxus-Wohnung – bis sich beide gegenseitig zum Ausbruch provozieren. Dabei verführt uns der Film subtil und zwingend dazu, die Perspektive seiner Figuren zu übernehmen, mit allen Widersprüchen und Widerständen – um dann gleich wieder die Seite zu wechseln.

Cronofobia ist ein überraschend reifes, elegantes Stück Kino.

Regisseur Francesco Rizzi © Imagofilm

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