GERDA von Natalya Kudryashova

© Russian Resurrection

Wohin bewegen sich Menschen, wenn sie es in ihrem Leben nicht mehr aushalten?

Natalya Kudryashova, Schauspielerin und Regisseurin, geht von einem metaphysischen Raum aus, der tiefer sei, als die sichtbare Welt um uns herum. Und in die bewegt sich der Film dann auch gleich, ganz unprätentiös, in den ersten Einstellungen.

Wir sehen eine Frau auf dem Rücksitz eines fahrenden Autos auf einem Weg am Waldrand. Sie blickt aus dem Fenster. In der nächsten Einstellung sehen wir das kleine Kind neben ihr. Dann bittet sie den Fahrer anzuhalten, geht ein paar Schritte in den Wald, um zu pinkeln.

Als sie sich wieder erhebt, wirft sie noch einen Blick in die Richtung des Autos und rennt dann los, atemlos, in den lichten Wald hinein.

Der Film heisst Gerda, aber die sehr junge Frau, die wir nun nach dieser Eröffnungsszene begleiten, ist Lera. Wir sehen sie in der Garderobe eines Stripclubs, im Separée mit einem Mann, beim Streit mit ihren Kolleginnen, die sie beschuldigen, für Geld mit den Männern weiter zu gehen als ausgemacht.

Als sie müde nach Hause kommt, liegt die Wohnungstür am Boden; sie steigt ungerührt darüber hinweg. Später stellt sich heraus, dass ihr Vater, der sie und ihre Mutter vor kurzem für eine andere Frau verlassen hat, immer wieder sturzbetrunken zurückkommt und mit seiner Frau und Tochter reden will. Und eben die Tür einschlägt, wenn ihn niemand reinlässt.

Lera studiert Soziologie tagsüber, wenn sie nicht zu müde ist von ihrem Nachtjob. Für den Abschluss muss sie von Tür zu Tür gehen und Leute befragen. Der Fragebogen stellt sich als nachgerade absurd heraus angesichts der Lebenssituationen, die sie antrifft. Etwa die alte Frau, die kaum von ihrer Rente leben kann. Oder der nette alte Messi mit den schreienden Katzen in der Wohnung.

Lera bringt es häufig kaum mehr fertig, die Fragen überhaupt zu stellen, so offensichtlich ist die Diskrepanz zwischen der Realität und der Stossrichtung der Erhebung. Zudem sind viele Leute ängstlich, wollen keineswegs den allmächtigen russischen Staatsapparat mit ihren Antworten verärgern.

Leras einziger echter Freund ist ein Künstler, der als Leichenbestatter arbeitet. Gespielt wird er vom derzeit wohl meistbeschäftigten russischen Schauspieler, Yuriy Borisov. Im Wettbewerb von Cannes im Juli war er gleich in zwei Filmen zu sehen, im Zugreisen-Roadmovie Hytti Nro 6 und in Kirill Serebrennikovs Petrov’s Flu.

Während Leras Mutter als Schlafwandlerin in den erweiterten Raum abdriftet, der Vater mit Saufen und Leras Stripper-Kolleginnen mit Koks, findet sie sich immer häufiger im Traum im Wald. In jenem, in den zu Beginn die Frau aus dem Auto gerannt ist.

Dass dieser metaphysische Raum Menschen nicht nur trennt, sondern auch auf überraschende Weise zusammenführen kann, zeigt Natalya Kudryashova in der eindrücklichsten Sequenz ihres Films:

Lera begleitet die schon ziemlich zugedröhnte Freundin ins Hotelzimmer jener Männer, die ihr Geld für etwas Privatvergnügen geboten haben, eigentlich, um sie vor sich selbst zu schützen. Als die Freundin dann dort auf dem Bett ohnmächtig wird und die Männer sich darauf Lera als Ersatz nehmen wollen, beginnt sie, auf dem Bett stehend, mit Kinderstimme ein Lied über Freundschaft zu singen. So ausdauernd und inbrünstig, dass die Männer schlagartig nüchtern werden: «Ich werde meinen Schwanz nie mehr hochkriegen», seufzt einer, und sie lassen Lera betreten ziehen, ihre ohnmächtige Freundin verzweifelt auf dem Boden hinter sich herschleppend.

Es gibt viele Szenen in diesem Film, in denen eine Situation, ein Raum oder eine Stimmung kippt.

Lera bietet sich überraschend einem Kunden an, gratis. Und danach im Atelier ihres Künstlerfreundes auch diesem, der seine offensichtlich lang versteckte Sehnsucht erfüllt sieht. Und dann doch verzichtet.

Gerda ist ein harter Film, der die Transzendenz für seine Protagonisten weder vorschlägt noch offen hält, sondern eher als einzige Überlebensmöglichkeit überhaupt anbietet, immer mit der Gefahr – oder der Hoffnung – verbunden, dass es keinen Weg zurück mehr gibt.

Natalya Kudryashova

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