3/19 von Silvio Soldini

Kasia Smutniak als Camilla in Silvio Soldinis ‚3/19‘ © filmcoopi

Irgendetwas fehlt diesem Film. Dabei ist alles so gut geschrieben, so raffiniert konstruiert.

Kasia Smutniak spielt Camilla, eine Corporate Lawyer, eine erfolgreiche, fleissige Konzernanwältin.

Eben hat sie sich noch von ihrem Kollegen anhören müssen, sie sei eine Kratzbürste, ein Stimmungskiller, es sei kein Wunder, dass sie noch immer nicht die Partnerschaft in der Firma bekommen habe.

Jetzt liegt sie im Regen auf der nächtlichen Strasse der Stadt. Sie ist wütend aus dem Auto gestiegen und von einem Roller angefahren worden. Neben ihr auf der Strasse liegt ein junger Mann, der Beifahrer des Rollers. Er wird im Spital sterben in der Nacht.

Der junge Mann, ein Namenloser, vielleicht aus dem Irak, bekommt im städtischen Bestattungsamt die Nummer 3/19. Er ist der dritte unidentifizierte Tote dieses Jahres 2019.

Silvio Soldini (Pane e tulipani, 2000) hatte nach eigenem Bekunden Lust auf einen Genrefilm, einen Thriller um Identitäten. Aber lange Zeit habe er keinen passenden Stoff gefunden. Und dann sei schliesslich diese Geschichte entstanden.

Diese Geschichte. Sie hat alles für einen intensiven Film. Die ehrgeizige Arbeitsmaschine Camilla hat ein Trauma aus ihrer Jugend, das ihre Tochter, die sich, wohl nicht zu Unrecht, von der geschiedenen Mutter vernachlässigt fühlt, bei der Lektüre eines alten Tagebuches ihrer toten Tante entdeckt.

Camilla (Kasia Smutniak, rechts) und ihre Tochter (Caterina Forza) © filmcoopi

Der Tod des jungen Sans-Papier verstört Camilla darum mehr, als sie sich eingestehen will. Sie beginnt auf eigene Faust nachzuforschen, mit Hilfe des Direktors der städtischen Leichenhalle, der sich prompt in sie verliebt.

Dieser Mann (Giuseppe Cederna) wiederum hat alles, was Camilla fehlt: Ruhe, Bescheidenheit, eine liebende Tochter mit nettem Freund. Und Freunde.

Camilla dagegen hat eine unverbindliche Beziehung mit einem Top-Shot-Kollegen aus einer anderen Firma, die aus aufrichtiger gegenseitiger Abneigung beim ersten beruflichen Aufeinandertreffen entstanden ist.

Kasia Smutniak als Camilla mit Eric Alexander in der Rolle ihres verheirateten Liebhabers in Silvio Soldinis ‚3/19‘ © filmcoopi

Die Obsession, welche Camilla mit dem jungen Toten entwickelt, ihre Suche, die Rückschläge, ihre Erkenntnis, dass sie zwanzig Jahre lang neben der Arbeit eigentlich gar nichts mehr interessiert hat: Das alles gibt massig Stoff für eine zeitgenössische Lebensparabel.

Da ist alles drin in dem Drehbuch, moderne Entfremdung, Schuldgefühle gegenüber jenen, die sich in der Migration verlieren, niemanden mehr kümmern, verdrängte Gefühle und ungelebtes (Familien-) Leben.

Die Darsteller sind ansprechend, Kasia Smutniak erinnert manchmal an Monica Bellucci; sie ist überzeugend in den meisten Sequenzen, aber am wenigsten dort, wo es am wichtigsten wäre: In der durchoptimierten Welt ihrer Arbeit.

Da stimmen die Sätze, so weit man das beurteilen kann, die Probleme der Corporate Governance, die Bedingungen bei Firmenübernahmen. Aber die paar gezeigten Verhandlungen bleiben Staffage. Anders als etwa bei Christoph Hochhäusler (Unter Dir die Stadt, 2010) sind diese Verhandlungsdialoge nicht darauf angelegt, Einsichten in die Mechanik dieser Geschäfte zu vermitteln. Sie bleiben auf der persönlichen Ebene von Sieg oder Niederlage, Triumph oder Demütigung.

Das reicht in diesem Film aber nicht, weil es dazu führt, dass wir vieles von dem, was Camilla im eigenen Leben passiert oder von ihr provoziert wird, dann ähnlich abstrahieren, in Reduktion auf die Wirkung.

Ein Film, der Welten gegenüberstellt, muss es schaffen, beide Welten erfahrbar zu machen.

Wahrscheinlich ist dies das Problem von 3/19: Die eine Welt bleibt uns fremd. Und da lassen wir uns von der anderen, uns bekannteren, eben auch nur bedingt berühren.

An den Filmtagen noch mal zu sehen am Sonntag, 23. Januar 2022
Kinostart Deutschschweiz: noch offen
Verleih: filmcoopi

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