L’ÉTÉ DERNIER von Catherine Breillat

Léa Drucker, Samuel Kircher

Mit der Erfahrung von mehr als dreissig selbst geschriebenen Drehbüchern und über zwanzig Filmen in eigener Regie ist die 75 Jahre alte Catherine Breillat nicht nur handwerklich ein Profi.

Sie hat auch das politische Denken, die immer wieder demonstrierten analytischen Interessen im Hinblick auf gesellschaftliche Rollen und Normen, um mit ihren Filmen keine Zweifel aufkommen zu lassen.

Oder umgekehrt: Sie weiss genau, was sie tut.

Darum kann sie auch zwei Filme in einen einzigen Strang drehen, wie sie es mit L’été dernier ausgesprochen raffiniert tut.

Léa Drucker

Zunächst ist da die auf Missbrauchsfälle und Jugendschutz spezialisierte Anwältin Anne (Léa Drucker), mit liebevollem Mann (Olivier Rabourdin), zwei adoptierten kleinen Töchtern und einem schicken Mercedescabrio neben dem schönen Haus mit Garten.

Der schneit der Teenager-Sohn ihres Mannes aus erster Ehe ins Haus, ein rotziger, zutiefst verletzter und verunsicherter Lümmel, mit dem ihr Mann Pierre nicht wirklich klar kommt.

Aber Anne kennt die Jugendlichen aus ihrer Praxis. Sie schafft es, diesen Théo zu beeindrucken und familientauglich zu machen.

So sehr, dass es zwischen den beiden zum Sex kommt und eine Affäre anfängt, die Breillat psychologisch sehr nachvollziehbar unterfüttert.

Dass diese intelligente Frau, die ihr Leben und ihre Familie im Griff hat, die dank jahrelanger Rechtspraxis genau weiss, was geht und was nicht, dass die in dieses moralische, ethische und praktische Schlamassel schliddert, das kriegt der Film überzeugend hin.

Léa Drucker, Samuel Kircher, Olivier Rabourdin

Und Breillat findet auch die Bilder dafür. Nach einem Ausflug zum Baden am Fluss mit den Mädchen und Théo fahren die vier im Cabrio zurück nach Hause, aus den Lautsprechern dröhnt Musik, die Kamera sitzt leicht verkantet vorne auf dem Auto. Es wirkt, wie eine rasende Fahrt bergab.

Highway to Hell.

Aber da sind wir noch lange nicht.

Léa Drucker, Samuel Kircher

Catherine Breillat hat die Konstellationen ihres Drehbuchs raffiniert konstruirt. Das ist ein theoretischer Fall, eine Versuchsanordnung. Aber so gut geschrieben, dass alles lebendig wirkt und einleuchtet.

Auch der plötzliche abrupte Wechsel im Tonfall und in der Wahrnehmung der Figuren durch das Kinopublikum, insbesondere der von Léa Drucker beeindruckend versatil gespielten Anne, sind Teil dieser Mechanik.

Wenn Psychologie dabei hilft, eine Glaubwürdigkeit der Ereignisse aufrecht zu erhalten, dann sind es andere Regelsysteme, die dafür sorgen, dass die Spannung auf der Leinwand gleich mehrfach umgepolt wird.

Und das geht weit über das einfachste Gedankenexperiment hinaus, dass man sich nämlich kurz vorzustellen versucht, wie die Geschichte mit der umgekehrten Konstellation, älterer verheirateter Mann und Teenager-Tochter seiner Frau, sich angelassen hätte.

Klingt nach dem US-Kino der 1980er und 1990er. Nach Fatal Attraction und Co. Nein. Geht nicht mehr, klar.

L’été dernier von Catherine Breillat bringt es mit kurzen Twists und unerwarteten Momenten fertig, an jene überholten Konstellationen zu erinnern und die wichtigen Fragen neu aufzuwerfen.

Das ist ein unterhaltsamer, bisweilen überraschend spannender Film, der einem erstaunlicherweise oft zu nahekommt, und dann ausgerechnet mit der Spannungsdramaturgie wieder die nötige Distanz schafft.

Ein sehr intelligentes, kalkuliertes und wunderbar funktionales Stück Kino. Mit einer letzten Einstellung, die direkt aufs Herz zielt und trifft.

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