PATAGONIA von Simone Bozzelli

Agostino (Augusto Mario Russi) und Yuri (Andrea Fuorto) © Wildside

Das ist eine Seltenheit, dass ein Film gleichzeitig ziemlich gut und ziemlich ekelhaft ist.

In Simone Bozzelli erstem Langspielfilm geht es um Freiheit und Abhängigkeit, darum, was Menschen brauchen, und was sie dafür aufgeben.

Yuri (Andrea Fuorto) © Wildside

Yuri (Andrea Fuorto) ist nicht ganz zwanzig Jahre alt, mit dem Gemüt und den intellektuellen Fähigkeiten eines Sechsjährigen. Er hat sein ganzes Leben am gleichen Ort verbracht, drei Nachbarinnen oder Tanten kümmern sich im Turnus um ihn, bei einer arbeitet er in der Metzgerei an der Kasse.

Als er am Kindergeburtstag für Yuris Cousin auf den Geburtstagsanimateur Agostino (Augusto Mario Russi) trifft, entwickelt sich innert Sekunden eine Dynamik zwischen den beiden.

Ago ist souverän, manipulativ und instinktiv dominant.

Kindergeburtstage sind für die Eltern, erklärt er Yuri später. Die bezahlen mich, denen muss ich gefallen. Die Kinder, das ist einfach. Die belohnst du, oder bestrafst sie, dann machen sie, was du willst.

Das leuchtet Yuri ein, hat es der Animateur doch bei der ersten Begegnung mit ihm durchexerziert. Yuri hat in seiner Naivität einen «Zaubertrick» des Kinderclowns blossgestellt, dafür demütigt ihn Ago, indem ihn zum adhoc-Assistenten macht und vor den Kindern blamiert.

Auf der nächtlichen Strasse vor dem Haus trifft Yuri auf Agostino vor dessen abgehalftertem Wohnmobil. Die Freiheit, die ihm der Animateur verspricht, wenn er als «Assistent» mit ihm gehe, reizt ihn aber offensichtlich nicht so sehr, wie die Aufmerksamkeit und die stete Gefahr, wieder bestraft zu werden.

Das erstaunliche an diesem Film ist seine Direktheit. Alles wird mehr oder weniger offen ausgesprochen. Ago macht klare Ansagen, auch wenn er sich unklar verhält, Yuri subtil verunsichert und noch subtiler bestraft für Fehlverhalten, das dieser gar nicht erkennt.

Auch die filmische Metaphorik ist simpel und direkt. Yuri bekommt bei der Technoparty der fahrenden Aussteiger von einem eine Ratte geschenkt, die braucht aber einen Käfig, um sicher zu sein. Und sie scheisst oder pisst auf Yuri, wenn sie glücklich und zufrieden ist.

Das gleiche passiert Yuri in der ekelhaftesten Szene des Films mit Ago. Und auch da ist festzuhalten, dass das zwar widerlich anzusehen und mitzuerleben ist, aber ganz objektiv gut gemacht und einleuchtend nötig im dynamischen Gefüge des Films.

Agostino (Augusto Mario Russi) und Yuri (Andrea Fuorto) © Wildside

Warum er seinen kleinen Hund an der Leine führe, fragt Yuri den Mann, der ihm die Ratte geschenkt hat. Der Hund würde auch ohne Leine keinen Meter weggehen, antwortet der. Er brauche die Leine wohl, um sich sicher zu fühlen.

Patagonia erinnert, gerade mit den ersten Einstellungen vom Kindergeburtstag, an Macht und Ohnmacht in Stina Werenfels’ filmischer Adaption Dora -oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern.

Allerdings sind die Macht- und die Freiheitsverhältnisse in Patagonia ganz anders angelegt. Während die geistig behinderte Dora sich selbstbestimmt ihre Freiheit nimmt, wenn sie sich dem Sex mit dem von Lars Eidinger gespielten Mann hingibt, und die Ohnmacht zuerst vor allem bei Doras Eltern liegt, spielt die Dynamik zwischen Yuri und Ago schliesslich in beide Richtungen, und Ago bekommt einen familiären Hintergrund, welche die Eidinger-Figur bei Werenfels nicht braucht.

Und mit dem Setting auf dem Schrott- / bzw. Rummelplatz zwischen den Aussteigern, den Schaustellern und den fahrenden Händlern, erinnert Patagonia auch an einzelne Filme von Covi/Frimmel und natürlich, wenn auch sehr entfernt, al La strada von Fellini.

Simone Bozzelli ©Federico Papagna

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