STEPNE von Maryna Vroda

Oleksandr Maksiakov, Radmila Shegoleva ‚Stepne‘ © Andrii Lysetskyi

Im Laub hinter dem Haus liegt ein Lenin-Kopf, der schon Moos angesetzt hat. Auf einem Stuhl unter den Bäumen steht die untere Hälfte eines Stalin-Porträts. Der Schnauz genügt zur Identifizierung.

Stepne – Steppe –, der erste Langspielfilm von Maryna Vroda aus Kiew, wirkt von den ersten Sekunden an dokumentarisch. Der klapprige Bus, der auf dem schlammigen Weg durchs Unterholz anhält, der Mann, der mit zwei Taschen aussteigt: Gegenwärtig, aber an einem Ort, in dem die Zeit sich nicht mehr bewegt hat.

Oleksandr Maksiakov ‚Stepne‘ © Andrii Lysetskyi

Die kleinen zerfallenden Hüttengehöfte, verstreut über die kaum erschlossene Landschaft am Rand der Ukraine, sind nur noch zum Teil bewohnt, vorwiegend von alten und sehr alten Menschen.

Anatoliy ist zurückgekommen, um seine sterbende Mutter zu pflegen. Unterstützt wird er dabei von der Nachbarin Anya, die jeden zweiten Tage vorbeikommt. Und mit der Anatoliy wohl etwas in der Vergangenheit verbindet.

‚Stepne‘ © Andrii Lysetskyi

Vielleicht auch die Skizzen eines nackten Frauenkörpers in der Mappe mit alten Zeichnungen von Anatoliy. Sicher aber eine Jugend in dieser Landschaft.

Auch das sentimentale Lied über eine Liebe am Dnipro, das sich Anya und Tolya, wie ihn alle nennen, zusammen anhören, auf dem Dachboden des Häuschens seiner Mutter, nach dem Aufhängen der Wäsche.

Tolya und seine Mutter © Andrii Lysetskyi

Stepne ist ein Spielfilm, perfekt gefilmt und ausgeleuchtet, durchkomponiert,  ohne dramatische Handlung. Aber dokumentarisch nicht nur im Einbezug der vielen alten Männer und Frauen dieser verstreuten Nachbarschaft, die sich bei Abdankungsmahl für die schliesslich verstorbene Mutter Geschichten von entbehrungsreicher Kindheit, dem grossen Krieg, Einsätzen in der sowjetischen Armee und immer wieder von Hunger und Hungersnot erzählen.

‚Stepne‘ © Andrii Lysetskyi

Eine der alten Frauen, blind, fast neunzig Jahre alt, murmelt schliesslich, in ihrem Leben habe es nichts Schönes gegeben. Bis ihr Mann sie daran erinnert, wie sie einmal in der Scheune in Panik vor einer Maus nackt vom Wagen gesprungen sei, und alle gelacht hätten.

Ob diese Menschen ihre eigenen Geschichten erzählen, oder ob das Drehbuch ihnen überzeugende Geschichten in den Mund legt, ist wenig erheblich.

Stepne ist ein Film mit der unmittelbaren Wirkung alter Fotografien. Die Welt, die wir hier zu sehen bekommen ist echt, greifbar und verwurzelt in einer Zeit, die fast nur noch in der Erinnerung der Protagonistinnen und Protagonisten existiert.

Wenn die sterbende Mutter im Delirium etwas von einem im Schuppen vergrabenen Schatz erzählt, verfliegt das so schnell, wie die Erinnerung an den einzigen, den sie je geliebt habe, ihn, den die Bastarde abgeholt hätten.

Erst als Anatoliys Bruder nach der Beerdigung im Schuppen ein Loch gräbt, fällt einem dieser Satz wieder ein. Und noch einmal, wenn ganz am Ende des Films dieses Loch wieder gefüllt wird.

© Andrii Lysetskyi

Der Schatz, den Maryna Vroda hier filmisch vergräbt, auf dass er immer wieder gefunden werden kann, den tragen wir in uns selbst. Jede und jeder von uns hat so einen Dachboden, oder Schuppen in der Erinnerung. Eine Liebe, aus der nichts geworden ist. Das Leben derer, die vor uns waren. Harte Zeiten, die einen im Rückblick weich machen.

Maryna Vroda © Igor Makedon

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