Der Kriegstraumaverarbeitung hat der in Frankreich lebende Kambodschaner Rithy Panh seine ganze Filmographie gewidmet. Zwölf Dokumentarfilme und sechs Spielfilme nähern sich immer wieder dem unbegreiflichen Horror, mit dem sich die Menschheit überzieht.
Sein 88 Minuten langer Irradiés («Verstrahlte») ist die hochverdichtete Kulmination seines Lebenswerkes. Der Film besteht zum grössten Teil aus dokumentarischem Archivmaterial und davon ein guter Teil bekannte Bilder, vom Gaskrieg vor Verdun über KZ-Filmmaterial, Vietnamkrieg, Kambodscha, Hiroshima, Nagasaki… „BERLINALE 2020: IRRADIÉS von Rithy Panh (Wettbewerb)“ weiterlesen
Franz Biberkopf heisst jetzt Francis B und kommt aus Bissau. Die ersten Einstellungen des Films zeigen Francis und seine Ida als ertrinkende Bootsflüchtlinge im Mittelmeer.
Hong Sangsoo ist wahrscheinlich der Grösste unter den Kleinmeistern. 26 Filme hat er gemacht seit 1996 und sie sind nicht nur ziemlich unverkennbar, sondern in der Regel auch ziemlich perfekt.
Irgendwie wird man bei diesem Film das Gefühl nicht los, Willem Dafoes Figur aus The Lighthouse sei zum Widergänger geworden. Er spielt Clint, einen Mann, der sich hoch im Norden mit einer kleinen Kaschemme im ewigen Schnee durchschlägt und immer mehr in seinen Erinnerungen versinkt.
Dafoe spielt aber auch gleich einen guten Teil der Figuren in der Erinnerung, sogar Clints Vater, den biederen Amerikaner, der seinen Sohn seinerzeit zum Fischen in eben diese Gegend mitgenommen hatte. „BERLINALE 2020: SIBERIA von Abel Ferrara (Wettbewerb)“ weiterlesen
Gleich mit ihrem ersten grossen Spielfilm, «La petite chambre» von 2010, gewannen die beiden Westschweizer Freundinnen Chuat und Reymond eine ganze Reihe von Preisen, darunter den Schweizer Filmpreis. Nach einer Fernsehserie und dem erfolgreichen Dokumentarfilm Les dames vor zwei Jahren haben sie sich nun mit ihrem zweiten Spielfilm in den internationalen Filmhimmel katapultiert.
Nina Hoss ist ein deutscher Filmstar, viele davon gibt es ja nicht. Aber mit Filmen wie Barbara von Christian Petzold holte sie sich breite Anerkennung. Lars Eidinger ist der Star der Berliner Schaubühne; sein markantes Gesicht hat über dreissig Filmrollen geprägt, ganz kleine, ganz böse, und ganz internationale, unter anderem bei Olivier Assayas, mit Juliette Binoche und Kristen Stewart in The Clouds of Sils Maria oder Personal Shopper.
Dem Magnetismus der beiden Darsteller kann man sich kaum entziehen, schon gar nicht, wenn sie, wie in Schwesterlein, sozusagen zu einem symbiotischen Organismus verschmelzen.
Nina Hoss ist Lisa, die Zwillingsschwester von Sven (Lars Eidinger), dem Star der Berliner Schaubühne. Das Theater war auch ihre Welt, sie hat erfolgreiche Stücke geschrieben, ihr Ex David (Thomas Ostermeier) ist Svens Regisseur seit vielen Jahren.
Aber Nina hat Martin (Jens Albinus) geheiratet, ist mit ihm nach Leysin in der Schweiz gezogen, wo er eine renommierte, teure Privatschule leitet, sie hat zwei Kinder. Temporär soll das sein, die Rückkehr der Familie nach Berlin nach ein paar Jahren ist ausgemacht. Zumindest für Lisa.
Aber dann reist sie überstürzt alleine. Bei Sven ist eine tödliche Leukämie festgestellt worden, eine Knochenmarktransplantation wird versucht.
In der ersten Einstellung des Films sehen wir Lisa auf einem Spitalbett, ihr wird Blut abgenommen. In der nächsten Einstellung sehen wir Sven im Isolationszimmer am Tropf. Das Bild ist so aufdringlich wie stark: In den beiden Geschwistern fliesst das gleiche Blut.
Dem Kampf um das Leben ihres Zwillingsbruders ordnet Lisa alles unter. Sie nimmt ihn zur Erholung mit nach Leysin, sie bemüht sich krampfhaft, das Sterben des Bruders zu verdrängen.
Darin gleicht Lisa den beiden Hauptfiguren von La petite chambre von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond. Damals war es der von Michel Bouquet gespielte Edmond, der sich die Schwächen seines Alter nicht eingestehen wollte und die Hilfe von Rose (Florence Lore Caillet) ablehnte, während diese wiederum den Tod ihres Kindes so sehr verdrängt hatte, dass sie nur noch ein Schatten ihrer selbst war.
Schwesterlein ist ein starkes Drama, ein Ensemble-Film. Marthe Keller hat mehrere grossartige und rührend komische Auftritte als ziemlich überforderte Mutter der Zwillinge. Die Dynamik zwischen Lisas Mann und Sven ist eben so spannend wie die zwischen Sven und den Kindern, die ihren Onkel lieben.
Am stärksten aber ist die Zeichnung der Verbindung zwischen den Geschwistern. Lichtsignale mit der Nachttischlampe, gemeinsame Erinnerungen, Svens ruhige Feststellung: «Du hast aufgehört zu schreiben, an dem Tag, als ich meine Diagnose bekam», und Lisas stillschweigende Bestätigung mit einem Blick.
Schwesterlein ist ein intensiver, starker Film. Lisas verzweifelte Versuche, ihren Bruder mit der Hoffnung auf ein eigens von ihr für ihn geschriebenes Stück am Leben zu halten, ist dabei vielleicht das einzige nicht ganz überzeugende Element.
Vielleicht, weil wir Lisa als Autorin nie kennenlernen. Nina Hoss ist am stärksten, wenn Lisa reagiert, wenn sie verweifelt, sich freut, oder wütend wird. Also immer dann, wenn zwischen den Figuren eine Spannung entsteht. Als behauptete Autorin allerdings müsste sie zu einem aktiven Energiezentrum werden, dafür ist die Figur aber nicht angelegt.
Verleih: Vega Distribution,
Kinostart Deutschweiz: 23. April 2020
Erst im Abspann ihres Films lässt Andrea Štaka das Klischee von der Leine, leise ironisch und voll schmerzlicher Schönheit. Da singt Ana Prada «Soy pecadora, soy mala, madre de todos los pecados» (Ich bin eine Sünderin, ich bin schlecht, die Mutter aller Sünden).
Mare (Marija Škaričić) hat den Moment da schon hinter sich. Ihr ältester Sohn ist ein nicht ganz einfacher Teenager, sein jüngerer Bruder und die Schwester der beiden hängen noch deutlicher an der Mutter. „BERLINALE 2020: MARE von Andrea Štaka (Panorama)“ weiterlesen
Wer sich auf romantische Motive einlässt, muss etwas wagen, eintauchen, abtauchen.
Das tun sie denn auch bei Petzold, seine Undine (Paula Beer) und ihr Christoph (Franz Rogowski), immer wieder. Er, weil er als Industrietaucher arbeitet und im Stausee Turbinen-Einlässe repariert. Und sie, weil sie Undine ist. „BERLINALE 2020: UNDINE von Christian Petzold (Wettbewerb)“ weiterlesen
Der 72jährige Philippe Garrel, Sohn eines Schauspielers, Vater von Louis und Esther Garrel, macht im Prinzip seit den 1960er Jahren den gleichen Film. Es geht um die Liebe, die Schwäche der Männer und der Frauen, manchmal mit anderen Süchten kombiniert.
Und es geht ums Handwerk Filmemachen. Philippe Garrel ist auch Lehrer an der berühmten Filmschule von Paris. Und in seinem neuen Film spielen nun vor allem einer seiner Schüler und mehrere seiner Schülerinnen mit den Tücken der Liebe, dem Salz der Tränen. „BERLINALE 2020: LE SEL DES LARMES von Philippe Garrel (Wettbewerb)“ weiterlesen