Cannes 11: THE BEAVER von Jodie Foster

THE BEAVER par Jodie FOSTER (4)

Der Geniestreich dieses Films ist zugleich seine kommerzielle Achillesferse, zumindest in den USA. Mel Gibson als durchgedrehten suizidären Ehemann zu casten, gibt dieser potentiell absurden Geschichte ein schneidend wahrhaftiges Element. Die Erkenntnis, dass eine so weit degenerierte Existenz wie die seine nicht mehr geflickt werden könne, verpasst sich die von Mel Gibson gespielte Figur selber – über eine alte Biber-Handpuppe, mit der er sich nach aussen hin selber therapiert. Der Biber übernimmt sein Leben und sagt ihm, was er zu tun habe. Und zusammen mit dem Biber übernimmt er wieder die Vaterrolle zuhause, gewinnt seine von Foster gespielte Frau zurück. Sogar in seiner Spielzeugfirma gelingt dank der Energie des Bibers der Turnaround. Bis klar wird, dass der Biber nicht die therapeutische Handpuppe ist, als die er sie ausgibt, sondern eine echte schizophrene Abspaltung und Übernahme.

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Cannes 11: LE HAVRE von Aki Kaurismäki

LE HAVRE par Aki KAURISMÄKI (2)

Wie macht er das bloss? Da meinen wir, Aki Kaurismäki und seine Tricks zu kennen. Und nun kommt er, und dreht uns seinen Film einmal mehr in neuer Variation an. Und er macht Freude! Der aufrechte Schuhputzer mit der todkranken, von Kati Outinen gespielten Frau im Spital hilft einem Container-Kind aus Afrika. Alle Nachbarn aus dem armen, aber pittoresken Quartiert helfen dabei. Alle? Nein, einer, gespielt von Jean-Pierre Léaud, ist ein Salaud. Der Film ist sehr Kaurismäki, aber er ist – und das ist neu bei ihm – ironisch selbstreferentiell. Kaurismäki spielt hier mit den Elementen seiner früheren Filme wie ein Comic-Künstler. Es sind die wiederkehrenden Elemente und ihre Freistellung, welche dem Film seine Würze geben.

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Cannes 11: Schlock Korridor II

8 Vegetarian

Wie schon im Vorgängerpost gesagt: Schlechte Plakate für schlechte Filme gibt es auch in diesem Jahr jede Menge. Bloss gute Plakate für schlechte Filme, hinter denen sich dann vielleicht sogar wieder gute Filme verbergen, die sind etwas dünner gesät als in früheren Jahren. Aber hier trotzdem noch ein Schub – die besseren von den schlechteren:

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Cannes 11: HORS SATAN von Bruno Dumont

HORS SATAN par Bruno DUMONT (1)

Dumont verblüfft sein Publikum immer wieder von neuem, eigentlich immer mit dem gleichen Prinzip: Er schaut seinen Figuren sehr lange und sehr geduldig zu bei dem, was sie so tun. Aber im Gegensatz zu seinem Publikum weiss er, was das ist. Wir finden es erst langsam heraus, normalerweise. Bei Hors Satan geht das auf den ersten Blick etwas schneller. Der etwas eigenartige Mann, der in den Dünen lebt und sich mit einer jungen Frau von einem der benachbarten Höfe angefreundet hat, betet viel. Bei jeder Gelegenheit fällt er in Dünen auf die Knie und betet. Und dann tut er wieder anderes.

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Cannes 11: THE TREE OF LIFE von Terrence Malick

THE TREE OF LIFE par Terrence MALICK (1)

Autsch. Da macht Terrence Malick nach Jahren sein lange ruhendes opus magnum fertig – und dann dies! Ein Hochamt auf das weisse US-Mittelklassevorstadtleben mit seinem Potential für Schmerz und Gottesglauben. Im Kern erzählt er die Geschichte einer MacDonalds-Werbung-Zielgruppenfamilie, bestehend aus Papa Brad Pitt, Engelsmama und drei Söhnen. Der Film eröffnet – nach etlichen Canyonaufnahmen, Sonnenaufgängen, Eclipsen und Meereswellen – mit der Meldung vom Tod des ältesten Sohnes, zu dem Zeitpunkt offenbar 19 Jahre alt. Es folgt eine protobiomakro-evolutionäre Erdsequenz, in der sich scheue Dinosaurier tummeln, bis ein Komet ihnen das Ende ihrer Zeit bringt. Alles dauernd unterlegt von existentiellen Fragen an Gott auf der Tonspur: Warum? Wann habe ich Dich erkannt? Wo bist Du?

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Cannes 11: L’APOLLONIDE – SOUVENIRS DE LA MAISON CLOSE von Bertrand Bonello

L'APOLLONIDE - SOUVENIRS DE LA MAISON CLOSE par Bertrand BONELLO (1)

Vielleicht war es Michel Fabers viktorianischer Bordell-Roman The Crimson Petal and the White, der ein neues Interesse an der alten Institution geweckt hat. Oder aber tatsächlich die französischen Debatten über Legalisierung und Besteuerung von Bordellen, wie Bertrand Bonello selber meint. Auf jeden Fall knüpft er mit seinem prachtvollen Ausstattungsfilm dort an, wo Louis Malle 1978 mit Pretty Baby aufgehört hat.

L’Apollonide ist ein Edelbordell am Ende der Belle Epoque in Paris, mitten in der Morgendämmerung des 20. Jahrhunderts, wie es im Film heisst. Marie-France, die Madame (Noémi Lvovsky), führt das legale und unter staatlicher Kontrolle stehende Haus mit eiserner, aber mütterlicher Hand. Ihre Mädchen bevölkern am Abend den prachtvollen Salon im Parterre, aufgeputzt und munter, willige und kostspielige Gespielinnen vor allem für reguläre männliche Gäste, vermögend samt und sonders, und in der Club-Atmosphäre zuhause. Einen Stock höher, in der Bel Etage, finden sich die nicht minder prächtigen Schlafzimmer, wo es zur Sache geht. Und unter dem Dachboden schliesslich teilen sich die „Working Girls“ die Dienstmädchenkammern und Betten. Aus dem Haus dürfen sie nur in Begleitung von Madame oder eines Kunden – alles andere würde als Strassenprostitution geahndet und ist verboten. Damit macht der Staat die Frauen zu Gefangenen – allerdings ohne dass der Film das wörtlich verkünden würde.

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Cannes 11: Schlock Korridor I

16 Bento monogatari

Jahr für Jahr steige ich mindestens einmal während des Festivals in die Katakomben des Filmmarktes, voller Vorfreude auf die irren Versprechen, welche die oft bloss als Mock-Up zusammengeschusterten Plakate abgeben. Heuer ist die Ausbeute allerdings etwas dünn ausgefallen. Entweder laufen die Geschäfte so schlecht, dass sich die wirklich schlockigen Schlockhändler keinen Stand mehr leisten können – oder dann ist der Welt des Exploitation Cinema die Fantasie abhanden gekommen. An einem Stand allerdings bin ich fündig geworden. Da gab es siamesische Zwillingshaie und weiss der Teufel was zu sehen. Aber fotografieren durfte ich nicht: Der Standbetreiber erklärte, er habe die Plakate mit Motiven aus dem Internet zusammengeshoppt und keine Rechte daran. Die könne er sich allenfalls leisten wenn die Filme einst gemacht würden. Was für grafische Motive gilt, gilt zum Glück ja nicht für Plotideen. Die werden endlos geklaut und variiert. Und das macht dann den Reiz dieses Film-Sklavenmarktes aus. Nach dem Sprung also eine erste Reihe von mehr oder weniger schlockigen Plakaten:

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Cannes 11: THE ARTIST von Michel Hazanavicius

THE ARTIST Michel HAZANAVICIUS (1)

Ein unerwartetes Vergnügen, dieses als Stummfilm im Akademie-Format und in Schwarzweiss gedrehte Nostalgie-Melodram. Während das Leuchtfeuer des männlichen Stummfilmstars verdämmert, kommt mit dem Eintritt in die Tonfilmära die Statistin zu Starstatus. Hazanavicius schwelgt in wunderschönen Schwarzweissbildern und liebevoll rekonstriertem Dekor. Film im Film, nein: Stummfilm im Stummfilm, immer schön mit Zwischentiteln. Ausser in einem Alptraum des Schauspielers, in dem alles lärmt und schnauft und knallt – bloss er hat keine Stimme.

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Cannes 11: LE GAMIN AU VÉLO von Jean-Pierre et Luc Dardenne

Thomas Doret, Cécile de France ©xenix
Thomas Doret, Cécile de France ©xenix

Ist das jetzt ein dardennifizierter Spielfilm oder ein verspielter Dardenne? Im Kern bleiben die Brüder dem menschlichen Drama treu, dem sie ihre bisherigen Filme gewidmet haben. Der nicht ganz zwölfjährige Cyril weigert sich zunächst zu glauben, dass ihn sein Vater einfach im Kinderheim zurückgelassen hat, dann findet er in der resoluten Coiffeuse Samantha eine Ersatzmutter – bis er sich einen lokalen Kleindelinquenten als Vaterersatz aussucht und selber delinquiert. Uff. Faszinierend ist nach wie vor, wie die Brüder vor dem stillen Schrecken im Leben nicht zurückzucken. Faszinierend ist ebenfalls, wie Cécile de France die unerschütterliche Ersatzmutter als Coiffeuse spielt, mit zweifarbigem Haar und Leopardendruckbluse. Und faszinierend schliesslich das Wiedersehen mit Jérémie Renier, dem Rabenvater aus L’enfant, in der Rolle des Rabenvaters.

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Cannes 11: MICHAEL von Markus Schleinzer

Regisseur Markus Schleinzer

Markus Schleinzer kommt aus der Haneke-Schule, daran lässt dieser Film keinen Zweifel. Kühl, distanziert, methodisch, pedantisch und präzise, wie die Titelfigur, handelt der Film seine Geschichte ab: Die letzten Wochen eines Mannes mit dem Zehnjährigen, den er in seinem Keller gefangen hält. Das sei keine verklausulierte Natascha-Kampusch-Geschichte, insistiert der Regisseur, und damit hat er bestimmt recht. Aber es ist ein Film aus Österreich, die Geschichte eines Mannes und eines im Keller des Mannes gefangenen Kindes. Dabei bleibt dem durchschnittlich aufmerksamen Zuschauer lange verborgen, welcher der beiden den Namen Michael trägt. Und wenn es dann klar wird, sind wir schon so weit, dass wir den Mann als Menschen erkannt haben, widerwillig, zwangsläufig.

Trennbalken Filmfestival Cannes 2011

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