Zu viel Realität an den „visions du réel“ in Nyon

Jimmy Carter in Jonathan Demmes "Jimmy Carter, Man from Plains"
Jimmy Carter in Jonathan Demmes 'Jimmy Carter, Man from Plains'

In der Morgenvorstellung von Jonathan Demmes ziemlich beeindruckendem Dokfilm über Jimmy Carter, den 39. Präsidenten der USA und Friedensnobelpreisträger, hat sich hier am Festival Visions du réel in Nyon eine Realsatire abgespielt. Im Film Jimmy Carter, Man from Plains erinnert sich der einstige Vermittler von Camp David daran, wie hart es war,  Anwar as-Sadat und Menachem Begin zum Unterzeichnen des Friedensabkommens zu bewegen, da dreht sich zwei Stuhlreihen vor uns plötzlich ein Typ um und brüllt den hinter ihm Sitzenden auf Englisch an, er sollegefälligst aufhören, seine Stuhllehne mit den Füssen zu treten, er könne sich nicht auf den Film konzentrieren. Kurze Konsternation im Saal, kurze Ruhe, dann springt der Aufgebrachte auf Knien auf seinen Sessel und brüllt den Zuschauer hinter sich noch einmal an. Dessen Begleiterinnen rücken in der (sonst leeren) Stuhlreihe ein paar Sitze nach links, der Angebrüllte jedoch zeigt dem Anbrüller den Vogel und bleibt sitzen. Über den Köpfen beider sieht man die dunklen Wolken rechtschaffener Empörung, während auf der Leinwand Jimmy Carter für seine Parteinahme für die Palästinenser als Antisemit, Lügner, Plagiator und so weiter beschimpft wird. Der Film von Jonathan Demme ist beeindruckend, der Auftritt der beiden Streithähne war ernüchternd, und wir sind alles in allem ziemlich verdattert aus dem Kino gekommen. Aber das sind die „visions du réel“: An diesem Dokfilmfestival muss man mit Erschütterungen rechnen…

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