Locarno 10: Saç (HAIR) von Tayfun Pirselimoglu

Saç von Tayfun Pirselimoglu

Cannes-Liebeling Nuri Bilge Ceylan hat im türkischen Kino seine Spuren hinterlassen. Saç wäre kaum denkbar ohne die epische Lakonie von Ceylans türkischen Männerfiguren, etwa jener aus Climates. Die erste Einstellung setzt den Ton. Sie zeigt den Oberkörper und das Gesicht der Hauptfigur vor einer grünen Wand. Der Perückenmacher sagt den ganzen Film hindurch kaum ein Wort. Er kämpft auch nicht wirklich gegen seinen Krebs, raucht weiter seine Zigaretten und versucht, zu essen.

In seinem Laden legt er wenig Verkaufsenergie an den Tag, bis eine Frau kommt, die ihm ihr wunderbares langes Haar verkaufen will. Nun transferiert er sein Interesse von sich auf sie, wird zu einer Art Schatten. Er folgt ihr mit viel Abstand, beobachtet sie. Diesen Interessenstransfer vollzieht er später noch einmal, und die Geschichte wird in ihrer alltäglichen Selbstverständlichkeit immer mehr zu einer Geistergeschichte, deren gerade noch lebendiges Gespenst der Perückenmacher ist.

Saç ist ein echter Locarno-Film im besten Sinne. Ein Film, der ein williges Publikum braucht, das bereit ist, sich in eine Kinotrance versetzen zu lassen. Mit seiner Länge von über zwei Stunden und der hypnotischen Lethargie der Hauptfigur ist der Film fordernder, als er sich gibt. Damit bildet er aber auch perfekt den Perückenmacher ab, denn dieser geht viel weiter, als man erwarten würde.

Gefilmt ist das alles vorzugsweise in flächigen, raumgreifenden Einstellungen, mit satten dunklen Farben. Besonders bemerkenswert ist übrigens eine Einstellung, die am Anfang zu sehen ist und dann wieder am Ende des Films. Ein starrer Blick aus dem Fenster des Perückenladens auf die Strasse, einen Fussgängerstreifen, viel Verkehr, eine Prostituierte auf der Fussgängerinsel und eine elektronische Reklametafel auf der Wand gegenüber, welche für den Karneval in Rio wirbt (der Perückenmacher hat eine milde Obsession für Brasilien und Brasilianische Musik) und für ein Filmfestival. Es ist ein bewegtes Bild in einem starren Rahmen, in dem der Blick des Kinopublikums umher rast und möglichst viel zu erfassen versucht, während alles vorbei gleitet und wieder verschwindet. Perfekter ist das Lebensgefühl des todkranken Perückenmachers kaum zu vermitteln.

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