Mit 87 hat Claude Lanzmann offensichtlich nichts von seinem Furor eingebüsst. Und nur wenig von seiner zuweilen egozentrischen Energie. 1975 hatte Lanzmann in Rom Benjamin Murmelstein interviewt, den letzten noch Lebenden der seinerzeit von den Nazi eingesetzten „Judenräte“. Das Material hatte er Steven Spielbergs Shoah-Foundation übergeben. Dort sollte es Forschern auf Anfrage zur Verfügungs stehen.
Als Lanzmann dann allerdings in einem Dokumentarfilm auf Auschnitte seines Interviews stiess, wurde er ungehalten und beschloss, das Material doch noch selber zu einem Film zu verarbeiten. Gestern hatte Le dernier des injustes hier in Cannes Premiere – ausser Konkurrenz, aber in Anwesenheit unter anderen von Valerie Trierweiler, Frankreichs aktueller Première Dame.
Mit drei Stunden und vierzig Minuten ist auch dieser Film von Lanzmann von monumentaler Länge. Allerdings sind die Gespräche mit Murmelstein zugleich so faszinierend und teilweise erschütternd, dass die Länge kaum auffällt.
Benjamin Murmelstein, geboren 1905, war Rabbiner in Wien vor dem Krieg. Und nach dem Anschluss Österreichs war er einer jener Männer, die zwischen den Nazi und den jüdischen Gemeinschaften vermittelten – stets zwischen Hammer und Amboss, wie Murmelstein im Film lachend erklärt. 1975 war Murmelstein der letzte Überlebende der „Judenältesten“ von Hitlers Modellghetto Theresienstadt, einer jener Männer, die unter anderen von Hannah Arendt in ihrer Berichterstattung zum Eichmann-Prozess der Mitschuld am Holocaust bezichtigt wurden.
Vom tschechischen Volksgericht war Murmelstein im Dezember 1946 freigesprochen worden [Nachtrag vom 23. Mai 2013: Dazu findet sich unten eine Richtigstellung im Kommentar von Ernest Seinfeld], aber der Ruf als Kollaborateur hing ihm zeitlebens an. So wie Murmelstein seine Funktionen im Film schildert, ergibt sich allerdings ein anderes Bild. Er war der dritte und letzte Theresienstädter Judenratspräsident, seine beiden Vorgänger wurden von den Nazi ermordet, so bald absehbar wurde, dass sie ihre Marionettenfunktion nicht mehr wahrnehemen konnten oder wollten.
Murmelstein erklärt, er sei ebenfalls eine Marionette gewesen, aber eine, die ihre Fäden bis zu eiem gewissen Grad selber zu bewegen wusste. Und das erklärt er sehr überzeugend. Angesichts der grauenvollen Verantwortung als Kopf der angeblichen jüdischen Selbstverwaltung des Modellghettos, jener Stadt, von der die Nazi-Propaganda erklärte, „der Führer schenkt den Juden eine Stadt“, und die reichsweit als eine Art friedliches Altersheim für Juden propagiert wurde, die bereit waren, ihr Vermögen aufzugeben und da hin zu ziehen, gab es wohl tatsächlich keine andere Wahl, als vordergründig die Rolle zu spielen und im Hintergrund zu versuchen, so vielen Menschen wie möglich das Leben zu retten.
Lanzmann legt den Film einerseits als historisches Dokument an und als Memento. Andererseit aber ist ihm tatsächlich daran gelegen, Murmelstein zu rehabilitieren. Das erklärt auch, warum er die ganzen Murmelstein-Gespräche nicht schon in Shoah verwendet hatte, obwohl sie zu den ersten Interviews gehörten, die er führte. Der damals siebzigzigjährige Murmelstein ist ein erstaunlich klarsichtiger, zuweilen fröhlicher Mann, der kaum je den Eindruck erweckt, sich reinwaschen zu wollen – aber zugleich mit sich selber durchaus im Reinen zu sein scheint. Nach Israel ist er nie ausgewandert, obwohl er sich das gewünscht hätte, ist er in Rom geblieben.
Im Film gibt er zu, als junger Mann durchaus fasziniert gewesen zu sein von der (relativen) Macht, die ihm sein „Amt“ brachte. Und er schiebt es auf jugendliche Abenteuerlust, dass er trotz etlicher Gelegenheiten, nach England oder in die USA zu emigrieren immer wieder zurückgekehrt sei.
Formal hat Lanzmann zu sehr einfachen, effizienten Mitteln gegriffen für den Film. Er unterbricht die Interviewaufnahmen mit Murmelstein mit Sequenzen, in denen er unter einem Galgen in Theresienstadt steht, in der letzten Synagoge von Wien, oder in den sumpfigen Wiesen von Nisko, und erzählt, was an den Orten passiert ist.
Dabei ergibt sich ein unheimlicher Effekt: Der jüngere Claude Lanzmann von 1975 kontrastiert mit dem alten Mann von heute, während den fast ausschliesslich bei sonnigem Wetter gedrehten Aufnahmen an den Orten des Horrors eine seltsame Zeitlosigkeit innewohnt. Der Krematoriumsofen in einer industriellen Halle vor Theresienstadt sieht aus, als ob er gestern noch in Betrieb gewesen wäre.
Der Titel des Films geht übrigens auf Murmelstein selber zurück. Er bezeichnet sich als „le dernier des injustes“ und die Ironie ist da nur halb. Murmelstein ist auf jeden Fall eine faszinierende Persönlichkeit und seine Biografie erschütternd. Und im Hinblick auf Hannah Arendts Satz von der Banalität des Bösen sagt er übrigens, da sei sie, jedenfalls was Adolf Eichmann angehe, völlig falsch gelegen. Der sei keineswegs nur der pflichtgetreue Bürokrat und Befehlsausführer gewesen, sondern ein durch und durch korrupter Funktionär, der mit Kumpanen ganze Erpressungsgschäftsketten aufgezogen hat. Eichmann, sagt Murmelstein, war ein Dämon.
Ich habe dieses Kommentar in der englischen Zeitung „THE GUARDIAN“ geschrieben und wiederhole es jetzt hier: 5/23/13 5:12:10 AM
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Mr. Lanzmann, a journalist and documentary producer, knows a lot about the Holocaust but seems to understand very little. He collects facts and opinions has limited knowledge of background and concocts an interesting story. He does not follow the standard journalistic practice of verifying and ascertaining the validity of the interviewee’s statements. Thus, he reduces himself to the mere mouthpiece of the person he interviews, in this case Murmelstein.
There are several wrong statements in this documentary, and those are probably only a fraction since I saw only a very short excerpts and reviews.
There is one more statement I wish to make. I never had any personal contact with Murmelstein, either directly or indirectly. These are my personal observation, though I know they are widely, I may even say universally, shared.
Let us start with Murmelstein who is referred to as Grand Rabbi of Vienna. Murmelstein was a rabbi of a small congregation in a poor district. Regarding the statement that he saved over 100,000 Jews escape from Vienna, these are the facts. The doors were wide open and Eichmann pushed and shoved the Jews out; they did not need Murmelstein for that. He was in charge of some technicalities such as providing transportation costs occasionally. It was the speed and extent of this exodus that became the career starter of Eichmann. Crystal Night (Kristallnacht), with which Eichmann had no connection at all (initiated by Goebbels), was helpful as it opened some hitherto closed or hardly open doors a little and convinced some still undecided Jews to leave.
One has to admit that Murmelstein’s learning and intelligence were outstanding, but so was his shrewdness. In all this he was far superior to Lanzmann and thus was able to lead him around with an nose ring.
Murmelstein was a brutal, violent person, mistrusted and often feared by his colleagues in Vienna and Theresienstadt. Murmelstein did not save one single Jew in Theresienstadt. His name in Theresienstadt was Murmelschwein (Murmel-pig). I observed him closely in Vienna and Theresienstadt for three years and knew people who were very close to him in both places. The last time I saw him was on September 28, 1944 from the second floor of the Hamburger barracks exactly above the train in which I was about to be shipped to Auschwitz on that very day. The very few SS-men supervising the loading of the transport behaved practically like gentlemen compared to Murmelstein and his equally brutal assistant Prochnik, both strutting around in their boots and yelling at the prisoners to hurry up. I vividly remember that one of them, to be honest I do not remember which one, actually pushed prisoners who were not fast enough stepping into the wagons.
Up to September 1944, Murmelstein was a Zero in the Jewish administration of this ghetto/concentration camp though he was nominally the Third Elder of the Jews. He was given minor departments both by Edelstein, an exceptionally decent person, and Eppstein, the first and second heads of the Aeltestenrat (council of elders), respectively. Edelstein knew Murmelstein when both were in charge of a transport to Nisko in Poland in 1939 and distrusted him thoroughly.
Murmelstein became de facto head of Th. on September 27, 1944 when Eppstein was arrested, and nominal leader only in December.
I have documentary evidence how the leading members of the Council of Elders kept him out of the loop regarding important and critical events.
After the last and eleventh transport left Th. on October 28, 1944, Murmelstein was in complete control of the so-called Jewish self-administration. His relationship with Rahm, the SS commander from Vienna seems to have been smooth. They both spoke the Viennese dialect and Rahm, as most Nazis at that time, recognized the approaching end and began to change their behavior.
Prior to his assuming the leading role in September 1944, Murmelstein had no access to the camp commander.
Murmelstein was an oversexed brute and acted as such in Th. In his inauguration lecture, when he was appointed lecturer at the Viennese Rabbinical Seminar, he analyzed the Church Father Origen and could not help to bring up a salacious item regarding whether a virgin would lose her virginity after falling from a donkey and breaking her hymen. This was in the 1930’s in Vienna where this word or similar words like vagina were never ever heard or spoken in public! (I have the original lecture)
A great deal more could (and will) be said about Murmelstein and the history of Th. I had started to write such a history in 1991 but had to stop in 2000 due to the health condition of my late wife. I plan to resume this now.
I was borne in 1924 in Vienna, Austria. I went to school with Murmelstein’s lowly helper Eddie Herrman and roomed with him for two years in Th. He was still employed by Murmelstein when he was sent to Auschwitz 10 days after I had been sent there. So much for Murmelstein’s ability to save anyone; there are more cases like that like Thea Starer one of his secretaries.
From Auschwitz I was sent to Dachau where I was liberated on April 29, 1945.
While in Dachau, I was fourth clerk in Block 27, a very lowly position but probably the only Jew in the history of Dachau to have such lowly a position. While in Dachau, I gave English lessons to Polish officers and kept a notebook in Gregg shorthand, which I still have.
After liberation I worked as an interpreter, first for the US army and then for the Military Government in Munich. After I returned to Vienna, I was the office manager of the American Jewish Joint Distribution Committee which was under the authority of the US Military government then. I left Vienna for the USA in November 1946.
When Mr. Lanzmann got the Golden Bear in Berlin in February of this year, and I heard about this documentary, I called him and spoke with his assistant, Laura Koeppel, warning to be cautious about Mr. Lanzmann’s judgement of Murmelstein and offering to supply additional information. But, without success.
Ernest Seinfeld
es893@columbia.edu
PS. Murmelstein wurde NICHT freigesprochen, sondern als NICHT BEWIESEN aus der Haft entlassen (scotish verdict)
Thank you, Mr. Seinfeld. Your explanations help to clarify some facts, whereas other questions will remain unsolved of course. You are absolutely right, Lanzmann’s film is in no way a journalistic enterprise and remains highly subjectiv and self-centered as is Mr. Lanzmann himself. Yet I am glad I saw it. And it still serves to keep the discussions up and the memories alive.