BLUE MY MIND von Lisa Brühlmann

Mia: Luna Wedler © frenetic

Die erste Einstellung ist, wie so vieles an diesem Film, bildliche Perfektion. Ein kleines Mädchen (die Tochter der Filmemacherin, übrigens) steht an einem dunklen Meeresstrand, die Zehen der nackten kleinen Füsse krallen sich in den brandungsnassen, fast schwarzen Kies.

Loulou Locher ist die kleine Mia am Anfang von ‚Blue My Mind‘ © frenetic

Das Bild nimmt nicht nur die Schlusseinstellung vorweg, sondern gleich auch den Kern der Filmgeschichte. Denn mit fünfzehn, in einer neuen Klasse, in einer neuen Stadt, fühlt sich Mia immer stärker vom Wasser angezogen. Ihr Körper verändert sich von den Füssen an aufwärts. Und die Eltern werden ihr fremder denn je.

Luna Wedler, Zoë Pastelle Holthuizen © frenetic

Die Angst vor der pubertären Veränderung und Entfremdung vom alten Ich hat schon viele Teenagerfilme inspiriert. Im Extremfall sind dabei Geschichten entstanden wie der kanadische Werwolf-Film Ginger Snaps oder kürzlich Julia Ducournaus Grave (mit der Schweizerin Ella Rumpf), der das Motiv noch weiter treibt.

Zoë Pastelle Holthuizen, Lou Haltinner, Yaël Meier © frenetic

In Blue My Mind wird allerdings recht bald deutlich, dass Mias Verwandlung nicht nur körperlich und persönlichkeitsbezogen sein wird, sondern auf ein elementar anderes Leben zuläuft.

Mia wird zur Meerjungfrau. Nicht zur liebenswert muschelbedeckten wie in Disneys Arielle, und auch nicht zur romantisch-tragischen wie im Märchen von Hans-Christian Andersen.

Mias Verwandlung geht eher in die monströse Richtung von Agnieszka Smoczynskas The Lure.

Luna Wedler © frenetic

Die junge Frau wird sich selber unheimlich, sie wird dermassen anders, dass sie ihre Mutter einmal fragt, ob sie allenfalls adoptiert sei – ohne eine Antwort zu bekommen.

Regisseurin Lisa Brühlmann schafft einerseits ein realistisches Teenager-Milieu mit ihren überzeugenden jungen Darstellerinnen. Und sie findet filmische Bilder, die von einem enormen Talent zeugen. Den Alltag mit seinem Lärm und dem Schrecken für Mia taucht sie in kalte blaue Bilder… und wenn die junge Frau im Schlaf oder im Traum in ihre eigene, andere Welt abtaucht, werden die Farben braungelb und warm.

Luna Wedler als Mia © frenetic

Lisa Brühlmann zeigt Mia und ihre Clique in der ganzen Irritierbarkeit und Fremdheit dieser ebenso verletzlichen wie aggressiven Gören. Und sie schafft, wie schon in ihren viel beachteten Kurzfilmen, schnelle, verdrehte, verblüffende Übergänge.

Wer Brühlmanns Kurzfilme kennt, findet mit Vergnügen das eine oder andere Echo davon in Blue My Mind. So hat die Regisseurin das mörderische Meerfrauen-Motiv schon 2013 in Hylas und die Nymphen innovativ, frech und verblüffend variiert.

Und die Szene, in der Mia ihre Mutter wütend aus dem Zimmer jagt, ist sogar ein wörtliches Selbstzitat aus Flügge von 2010.

Mias Eltern: Regula Grauwiller, Georg Scharegg © frenetic

Gestaltung und Plot von Blue My Mind tragen die eindeutige Handschrift von Lisa Brühlmann. Sie kombiniert gekonnt fantastische Elemente mit Alltag, aggressive junge Weiblichkeit mit Verunsicherung und Angst.

Was ihr allerdings noch nicht ganz gelingt, ist die dramaturgische Bändigung des Langfilmformats. So bald einmal klar ist, wo Mias allegorisch-realistische Verwandlung hingeht, braucht es die weiteren Hinweise nur noch bedingt. Es reicht, wenn die junge Frau einen Fisch aus dem Aquarium verschlingt, dass sie es später im Heisshunger leer frisst, wirkt bemühend, wie auch einige weitere Szenen, die bloss illustrieren, was schon klar scheint.

Dabei ist da eine eingespielte Truppe am Werk, zu Brühlmanns fixem Team gehört auch ihr Mann, Filmemacher Dominik Locher, der in Locarno mit seinem Goliath ähnlich wuchtiges Faible für starke Szenen mit dem gleichen Hang zur noch etwas repetitiven Ausdehnung demonstriert hat.

Aber schliesslich entschädigt der effizient und klar eingeführte Blue My Mind für die Längen im mittleren Teil mit einem ebenso klaren, konsequenten, hinreissend inszenierten Schluss, der zugleich erschreckt und tröstet.

Lisa Brühlmann ist ein Talent, und ihr Gespür für das Fantastische im Alltag ein gutes Omen für die erzählerische Ausweitung im Schweizer Film.

Blue My Mind ist am ZFF noch dreimal zu sehen und kommt im November 2017 ins Kino.