Locarno 15: HEIMATLAND von Lisa Blatter, Gregor Frei, Jan Gassmann, Benny Jaberg, Carmen Jaquier, Michael Krummenacher, Jonas Meier, Tobias Nölle, Lionel Rupp und Mike Scheiwiller (Wettbewerb)

'Heimatland' © Look Now
‚Heimatland‘ © Look Now

Zehn junge Schweizer Filmemacherinnen und Filmemacher tun sich zusammen und entwickeln Szenen-Ideen zu einem Grundeinfall: Über der Schweiz braut sich etwas zusammen. Eine unheimliche Wolke verdunkelt den Himmel über dem Land. Es kommt zu Stromausfällen, die Wasserversorgung bricht zusammen, Läden werden geplündert, Panik treibt Tausende an die Grenzen. Denn an der Grenze stoppt die Wolke. Und an der Grenze werden auch die Flüchtlinge aus der Schweiz gestoppt; die EU lässt nur noch Menschen mit EU-Pass ins sichere Ausland.

Was leicht zu einer simplen Umkehr-Satire hätte gerinnen können, wird vom Kollektiv dieser offensichtlich eben so streitbaren wie talentierten jungen Autorinnen und Autoren zur packenden, zuweilen aufwühlenden und manchmal durchaus auch komischen Dystopie.

Zehn verschiedene Stränge um zehn verschiedene Menschenkonstellationen wurden von zehn verschiedenen Filmemacherinnen inszeniert und dann in einem radikalen und garantiert schmerzhaften Prozess zu einem Film aus einem Guss geschnitten und verdichtet.

Wenn so viel zusammen kommt, liegt es auf der Hand, dass die Perspektiven und Binnengeschichten sehr unterschiedlich ausfallen.

© Look Now
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Da ist etwa die Zürcher Polizistin, die sich für den Tod eines afrikanischen Flüchtlings verantwortlich fühlt und in der zunehmenden Dunkelheit des aufziehenden Sturm von einer alptraumartigen Szene in die nächste fällt.

Da ist der kroatische Taxifahrer, der seine Frau kaum je sieht, weil er stets die Nachtschicht fährt, während sie am Tag arbeitet. Bis eben die Wolke auch die Tage zur Nacht werden lässt. Er begegnet in einer der ersten Szenen des Films dem zynischen Schweizer, der eben von einer Prostituierten im Niederdorf kommt und zum Flughafen will.

Im Kanton Schwyz peitscht ein fanatischer Landesverteidiger die Menschen im Dorf zur Bildung einer Bürgerwehr auf, in einem Westschweizer Supermakt verliert der Manager die Nerven und schlägt einen Mann nieder, der sich weigert, den längst leergeräumten Laden ohne eine Flasche Wasser zu verlassen. Und eine junge Frau macht ihrem Freund Vorwürfe, weil er auf Wassersuche die Scheibe eines kurdischen Quartierladens eingeschlagen hat, statt in einen Supermarkt einzubrechen.

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Das satirische Potential der Geschichte ist riesig und in vielen Sequenzen wird es auch wunderbar ausgespielt. Am Fernsehen erklärt der unverwüstliche Jean Ziegler, dass der aufziehende Sturm wohl die gerechte Strafe sei für die Schweiz, die sich allzu lange auf Kosten aller anderen bereichert habe.

Am Hauptbahnhof ruft ein religiöser Fanatiker zu Reue und Umkehr auf: «Oh, Schweiz, Du Hure Babylon».

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Und wenn die Schweizer auf der Flucht ausgerechnet auf jener Grenzbrücke gestoppt werden, die man aus Markus Imhoofs Das Boot ist voll noch in tragischer Erinnerung hat, dann geht der Film ganz wörtlich an die Grenze.

Aber Heimatland ist glücklicherweise viel mehr als eine Montage satirischer Elemente und Einfälle. Der Film baut von den ersten Bildern an eine bedrohliche Stimmung auf. Im unwirtlichen Felsgeröll in den Alpen steigt Nebel aus einer Spalte, ein Reh schaut sich um, Nebelschwaden fliessen die Felshänge hinab. Und so geht es weiter. Es ist keine abstrakte Bedrohung, welche die Menschen aufschreckt, sondern sehr bald ein realistisches Szenario. Es braucht ja nur den Zusammenbruch der Wasser- und Stromversorgung, um kriegsähnliche Zustände auszulösen.

© Look Now
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Drei Kamera- und zwei Soundmänner und vor allem Kaya Inan als Schnittmeister haben für einen durchgehenden düsteren Look gesorgt und vor allem für einen erzählerischen Zug, der kaum je nachlässt. Der Film hat eine Energie und eine Kraft, welche verblüffen. Französische Szenen stehen völlig natürlich neben deutschsprachigen, komische neben tragischen, Satire neben Ausgelassenheit oder Pathos. Und wo andere Filme sich um den genau richtigen wechselnden Rhythmus bemühen müssen, weil ein durchgehendes Skript die Tendenz hat, einfach abzulaufen, kommt Heimatland genau die unterschiedliche Tonalität und die heterogene Ausrichtung der einzelnen Figurenstränge entgegen.

Da dürfte manchen der Autorinnen und Autoren das Herz geblutet haben, als bei der Montage des ganzen Films die eine oder andere mit viel Aufwand gedrehte Lieblingsszene rausfiel. Aber „Kill your Darlings“ ist auch beim Film eines der zentralen Konzepte und der harte Job der Cutter. Bloss müssen sich Cutterinnen und Cutter normalerweise bloss mit dem Ego eines Regisseurs abplagen. Bei Heimatland dürfte der emotionale Aufwand ungleich grösser gewesen sein.

Das Resultat, dieser frische Film aus einem Guss, mit vielen Fazetten, gibt ihnen allen Recht.

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