NIFFF 16: THE LURE (Córki dancingu) von Agnieszka Smoczynska

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Andersens kleine Meerjungfrau in einer bizarren, packenden, blutigen und beinahe grossartigen Horror-Genre-Musical-Eurotrashpop-Version. Nein? Bitte keine vorschnellen Entscheidungen.

Das packende an Märchen ist das Unheimliche. Da mag Moral mitschwingen, Volksglauben, Tiefenpsychologie: Das was Märchen antreibt und sie uns einverleibt, ist ihr direkter Zugang zu unseren Ängsten und Hoffnungen. Und glücklicherweise gilt das auch für gelungene Kunstmärchen wie Hans Christian Andersens „Die kleine Meerjungfrau„.

Erinnern wir uns: Andersens Meerjungfrau verliebt sich in einen Menschen und muss für ihn ihre Herkunft ablegen. Ihre Menschwerdung bedeutet aber auch, dass sie mit ihrem Fischschwanz ihre Stimme verliert. Und falls es ihr nicht gelingt, die Liebe des Mannes zu erlangen, das Leben. Sie wird zu Schaum.

The Lure (2)

Agnieszka Smoczynska hat das für ihren Erstlingsfilm zu einem faszinierenden Genre-Mix umgearbeitet. Neben Musical-Nummern hat der Film Horror-Momente, Nachtclub- und Trash-Romantik, Punk-Nummern und einen höchst zeitgemässen, beunruhigend amorph-xenophoben Unterton. Perfekt für einen polnischen Film, bei dem sogar das staatliche Fernsehen mitproduziert hat.

Im Film sind es zwei der Meerjungfrauen, die an Land kommen. Die Schwestern nennen sich Gold und Silber, sie sind aus Neugier an Land gekommen und aus Abenteuerlust. Eigentlich sind sie eher Sirenen als klassische Meerjungfrauen; sie sind Fleischfresser und für Menschen eigentlich gefährlich.

Ihre Fischschwänze sind lang und aalartig, mit einer vaginaähnlichen Öffnung am unteren Drittel. Ihre menschlichen Frauenkörper haben keine Unterleibsöffnungen; die zwei sind zwischen den Beinen hinten wie vorne glatt wie Barbiepuppen. Oder wie das von Scarlett Johansson gespielte Alien in Under the Skin.

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Diese Eigenschaft, ihre verlockenden Stimmen und der Umstand, dass sie sofort wieder Fischgestalt annehmen, wenn sie nass werden, verhilft Gold und Silber zu einem Engagement mit einer Nachtclub-Band als Stripper/Singer Kombination.

Der englische Titel bezeichnet eine Verlockung, oder einen Fischköder. Deutsch müsste der Film vielleicht „Die Sirenen“ heissen. Die wörtliche Übersetzung des polnischen Originaltitels Córki dancingu wäre „tanzende Tochter“ oder Töchter des Tanzes. Der Nachtclub, in dem sie auftreten, heisst übrigens sinnigerweise „Adria“. Und als der schmierige alte Nachtclubbetreiber die Schwestern fragt, wo sie denn Polnisch gelernt hätten, erklären sie, das sei an der bulgarischen Küste passiert.

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So sind die zwei gefährlichen Schwestern auf ihrem Assimilationstrip ins polnische Nachtleben also eigentlich Migrantinnen. Und zudem noch Migrantinnen, die ihre Herkunft nur unter Lebensgefahr und totaler Selbstverleugnung ablegen können. Damit sind sie tatsächlich verwandt mit Scarlett Johanssons Alien in Under the Skin.

Zwangsläufig erliegt denn auch nur die jüngere der Verlockung der Liebe, die ältere bleibt sich treu und frisst hin und wieder auch einen Nachtclubbesucher. Das bringt die Polizei auf den Plan, in Gestalt einer Detektivin, die allerdings der Verführungskraft der Sirene ihrerseits nicht widerstehen kann.

Anders als bei Andersen ist die Menschwerdung der jüngeren Schwester nicht nur von Schmerzen begleitet, sondern operationsbedingt: Sie tauscht ihren Fischschwanz gegen den Unterleib einer menschlichen Frau in einer blutigen Prozedur, der Operationstisch ist eine Eiswanne wie beim Fischhändler.

Und Anders als bei Andersen ist auch der Schluss. Es gibt keinen Gnadenakt und keine Verwandlung in einen Luftgeist. Dafür aber eine angemessene Rache der Fremden an den Menschen.

Wenn es etwas zu bemäkeln gibt an diesem auf mehreren Ebenen höchst faszinierenden und einigermassen verstörenden Film, dann die manchmal etwas kryptischen Übergänge. Aber die erschliessen sich möglicherweise im polnischen Zusammenhang noch einmal anders.

Damit bleibt als grösster Schwachpunkt die Musik, oder wenigstens ein Teil davon. Das ist grösstenteils Euro-Trash-Rock-Pop, möglicherweise in perfekter Übereinstimmung mit dem Nachtclub-Milieu, in dem der Film spielt. Aber kaum je so eingängig und verlockend, wie sie es für ein richtiges Musical sein müsste.

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