ARIYIPPU von Mahesh Narayanan

Divyah Prabha, Kunchacko Boban

Ein sozial engagiertes indisches Drama, das in seiner moralischen Anlage an die Filme der Dardenne Brüder erinnert. Vor vierzig Jahren wäre das ein doppelt unsinniger Satz gewesen.

Weil da einerseits noch kaum jemand die Dardennes kannte. Und weil anderseits auch in den Schweizer Studiofilm-Kreisen nicht Bollywood und Hindi-Melodram dominierten, sondern, zum Beispiel, Satyajit RayMrinal Sen oder Ritwik Ghatak.

Nun ist der Film dieses Regisseurs aus Kerala ein angemessen eindrücklicher Auftakt für den diesjährigen Wettbewerb von Locarno, eine Erinnerung daran, dass so etwas wie der italienische Neorealismus einmal eine ziemlich globale Film-Bewegung war, das Kino mitunter ein Medium der sozialen Reflexion.

Die Geschichte von Hareesh und seiner Frau Reshmi zeigt indischen Alltag im Gewand eines Industriethrillers. Das Paar aus Kerala arbeitet in der Nähe von Delhi in einer Fabrik für Latex-Handschuhe. Für beide soll das eine Zwischenstation sein, denn sie haben Visa beantragt, um auszuwandern.

Und das führt indirekt auch zum Kerndrama. Denn für die Arbeitsgesuche zu den Visa haben sie ein kleines Video gedreht, das Reshmi bei der Qualitätskontrolle der Gummihandschuhe zeigt, ein «proof of skills».

Ein paar Tage später aber taucht genau dieses harmlose Video in diversen Chatgruppen auf, ergänzt um eine Einstellung, die ziemlich eindeutig zeigt, wie eine Frau in Arbeitskleidern dem Filmenden einen Blowjob gibt.

Hareesh ist entsetzt und verletzt, seine Frau noch viel mehr, nicht zuletzt über den Umstand, dass ihr Mann auch nur einen Moment hat den Verdacht hegen können, dass da wirklich sie zu sehen ist.

Der Film spielt in aller Selbstverständlichkeit während der Covid-Pandemie. Geschäfte wie das Visa-Business stehen still, die Menschen tragen Masken. Und sie reden nicht alle die gleiche Sprache, da ist Hindi zu hören, aber auch Malayalam und indisches Englisch.

Dass in der Fabrik noch ganz andere Dinge im Verdeckten geschehen, etwa ein schwungvoller Handel mit gebrauchten und wieder gereinigten medizinischen Handschuhen, ist nur die Oberfläche. Korruption, Erpressung und Verschleierung spielen eine grosse und spannende Rolle.

Gleichzeitig ist die Handschuh-Fabrik mit ihren hunderten durchs Latexbad tauchenden Handformen am Laufband eine visuell Bestechende Umgebung für alles, was da vor sich geht.

Da drehen sich weisse Hände in zentraler Perspektive auf die Kamera zu, tauchen winkend in das blaue Latex-Bad und tauchen tropfend wieder auf. Die altertümliche Fabrikanlage wirkt wie ein mechanisches Ballett von Mahnfingern in konstanter Bewegung.

Auf eine grosse Ermahnung läuft der Film auch hinaus. Dem Traum eines besseren Lebens in einem anderen Land mag der Mann einen Teil seiner moralischen Integrität opfern. Nicht aber die Frau.

Und das ist nun absichtlich eine mehrdeutige Formulierung. Entscheiden Sie selbst.

Der Film ist es wert.

Mahesh Narayanan

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