Locarno: Regenkapriolen zur Eröffnung

Unerschütterliche Filmfans auf der Piazza Grande (c) sennhauser
Unerschütterliche Filmfans auf der Piazza Grande (c) sennhauser

Hartnäckigkeit zahlt sich aus. All jene, die wegen der Gewitterstimmung um 20 Uhr schon mal das Turnhallenkino bezogen, hatten das Nachsehen auch jenen Unentwegten gegenüber, welche mit Schirm und Pelerine die Piazza Grande eroberten und trotzig ausharrten: Das Gewitter war ein kurzer Schrecksprutz und ab 21 Uhr war es schon wieder trocken (ausser auf den Stühlen natürlich). Die Eröffnungszeremonie verlieft kurz und würdig und schon bald donnerte die legendäre Stimme von „la voce“ über die Piazza Grande und kündete Julian Arnolds Brideshead revisited an, ein Film im übrigen, der gefällt und funktioniert, auch wenn er die komplexe Vorlage ganz Rosamunde-Pilcher-mässig plättet, wie ein spitzzüngiger Kollege behauptete. Mir hat es gefallen, dieses dekadente Laboratorium für menschliche Zwänge jenseits materieller Sorgen.

Die legendäre Stimme, genannt „la voce“, kündigt den Eröffnungsfilm an:

Locarno: Preopening mit Young@Heart

Frédéric Maire auf dem schermo gigante in Locarno (c) sennhauserFrédéric Maire wirkte fit und vergnügt auf der Festivalbühne. Der Abend vor der Festivaleröffnung gehört hier traditionellerweise der einheimischen Bevölkerung mit einer Gratis-Filmvorführung auf der Piazza Grande. Dafür, dass morgen wieder alles ausverkauft sein wird, waren aber erstaunlich wenig Leute da heute. Dabei ist der Film Young@Heart wirklich ein beschwingtes Stück Dokumentarkino mit heimlichem Biss. Ein Chor aus lauter sehr alten Menschen (Durchschnittsalter 80!) singt Rock-, Pop- und Soulfeger, Punksongs und anderes. Das ist nicht einfach rührend und ermutigend, wie man es vielleicht erwarten würde, das hat auch eine ganz scharfe Seite. Der Trick liegt unter anderem darin, das Bob Cilman, der Chorleiter, seine Sängerinnen und Sänger ganz subversiv auf die Songs loslässt. Wenn die entschlossenen Alten an einem Gefängniskonzert „Forever Young“ singen, zu Ehren eines eben verstorbenen Kollegen, oder „Staying Alive“, den Bee Gees Heuler, dann bekommen die Songs eine komplett neue, überraschende Bedeutung. Wenn Cilman sie aber „Schizophrenia“ von Sonic Youth einstudieren lässt, dann wird das zum surrealen Musiktheater, die ganze Sache wächst weit über sich selbst hinaus und die Performance nimmt Dimensionen an, die in die Knochen fahren. Das war ein guter Abend auf der Piazza Grande und der Film kommt demnächst ins Kino, an diversen Open Airs war er auch schon zu sehen. Ich denke, das wird ein Langzeit-Brenner, das ist einer der Filme, in die man Familienmitglieder schickt oder mitschleppt und die tun das dann wiederum mit ihren anderen Angehörigen. Gut so!

Welthund

Dieser «erste Oberbaselbieter Kinospielfilm» hat seinen Ursprung in einer Fortsetzungsgeschichte, welche die Autorin Barbara Saladin in der Sissacher Lokalzeitung "Volksstimme" im Sommer 2004 veröffentlicht hat. Der dörfliche Krimi um seltsame Ereignisse und eine Sagengestalt kam gut an, und so entstand die Idee einer filmischen Umsetzung. «Welthund» ist als Low- oder gar «No Budget»-Produktion entstanden, mit Profischauspielerinnen und noch mehr Laien aus der Region. Fast das gesamte Budget von rund 80'000 Franken ging in die Postproduktion, also den Schnitt, die Endabmischung und die Kopienherstellung. Und wie sieht nun der fertige Film aus?

 Das hängt sehr von der eigenen Erwartungshaltung ab. Die Geschichte ums "Bachpfattli", den ruhelosen Geist eines Geizkragens, der das Dorf seiner Nachkommen terrorisiert, fängt stimmungsvoll grobkörnig und ausgewaschen an. Knapp über Bodenhöhe flitzt die Kamera über den Waldboden, dem alten Horrorfilmtrick gemäss den subjektiven Blick eines Tieres mimend. Jogger rennen durch den Wald, ein Mann mit Schlapphut ist mit seinem Hund unterwegs. Ein alter Bauer auf einer Waldlichtung reisst erschreckt die Augen auf und fällt tot um. Das Bachpfattli hat ihn ereilt. Anderen im Dorf gehts weniger schlecht, ihnen beschert die nächtliche Begegnung mit dem seltsamen grossen Hund bloss eitrige Ausschläge. Aber der Dorffrieden ist gestört…

Die inszenatorischen Mittel des Films sind begrenzt, die meisten Szenen wurden offensichtlich mit möglichst kleinem Aufwand gedreht und so sind auch die Anschlüsse der Szenen manchmal holprig, manchmal geglückt, viele Übergänge wirken willkürlich, weil szenenfremdes Material als cutaway herhalten musste. Wie die meisten vergleichbaren Produktionen hat auch "Welthund" zwei grosse Probleme. Das eine ist die Mischung von Profischauspielern mit Laien. Das mag funktionieren, wenn sie nicht aufeinandertreffen. Aber wenn Florian Schneider (das Basler "Phantom of the Opera") oder Charlotte Heinimann Dialogszenen mit Laien bestreiten, wirkt der Kontrast manchmal erschlagend. Nur die grossartige Sylvia Bossart als heimlifeisse alte Louise Gisin bringt es fertig, in jeder Szene gleichzeitig professionell und integrierend zu wirken. Neben ihr strahlen plötzlich auch hölzerne Darsteller für einen Moment auf.

Das zweite Problem ist das Drehbuch, das eine Fülle von Fäden und Figuren anspinnt, aber kaum einen Strang konsequent verfolgen kann, geschweige denn, einen Spannungsbogen aufrecht erhalten. So bleiben vor allem etliche sehr gelungene Szenen in der Erinnerung, beiläufige Auftritte bleicher Geister, oder inszenatorische Einfälle wie der beiläufige Kameraschwenk in der Dorfbeiz über "Bachpfattli"-Gebäck auf der Theke, nach dem das Geistergerücht die Touristen ins Dorf gebracht hat. Bloss wird der hübsche stumme "sight gag" dann totgeschlagen, weil die Serviertochter die Gäste auch noch fragen muss, ob sie ihren Kaffee mit "Bachpfattli-Brötli" möchten oder ohne.

So, wie der Film nun aussieht, hängt er zwischen einer dörflichen Laientheater-Produktion (auf hohem Niveau) und einer Art bewegtem Storyboard, das für die eigentliche Spielfilmentwicklung ideal wäre. Wer sich allerdings auf das Filmerlebnis einzulassen vermag, ohne bei jedem Schlagloch gleich auszusteigen, wird mit einem phantasievollen Garn belohnt, das – ausschliesslich im Hinblick auf seine Stimmung – manchem der Fernsehfilme von SF DRS sogar einen gewissen Biss voraus hat. Der Grund dafür dürfte in der Unbekümmertheit der Produktion zu finden sein, die sich zumindest hier als wirklich unabhängig erweist. In kaum einem aktuellen Film wird noch so unbekümmert geraucht wie in diesem, und diese Unbekümmertheit schlägt positiv auf die Stimmung durch.

Auf der offiziellen Welthund-Seite finden sich viel Hintergrundmaterial, lokale Presseberichte, Fotos, Merchandising (!), Hinweise auf Spielorte und -Zeiten und ein wirklich hübsch gemachter, minimalistischer Trailer. Und da liegt vielleicht das dritte Problem dieser Produktion: Trailer, professionelle Grafik und auch sonst etliches aus der Fundraising-Zeit wecken Erwartungen an die "production values", die der Film natürlich nicht einhalten kann. Tiefer stapeln hätte da vielleicht mehr geholfen.

Comrades in Dreams

Comrades in Dreams (c) trigon-film
Comrades in Dreams (c) trigon-film

Ein Dokumentarfilm über Kinobetreiber: Da sollte uns ja das Herz aufgehen. Der (Ost-) Deutsche Uli Gaulke hat sich allerdings nicht die industrialisierten Kinopaläste ausgesucht, sondern vier Verteidiger des traditionellen Kinoerlebnisses. Comrades in Dreams führt uns nach Burkina Faso, nach Indien, nach Nordkorea und in die Tiefe der amerikanischen Provinz. Das ist ein sorgfältig und klug gebauter Dokumentarfilm, Gaulke zeigt den indischen Zeltkinobetreiber, die drei cinéphilen Jungunternehmer in Burkina Faso, die linientreuen nordkoreanischen Filmvorführer und die über Familientragödien in ihr Provinzkinogeschäft geschlidderte Amerikanerin in erster Linie als Menschen, die den Traum vom Kino in harter Arbeit am Leben halten. Offenbar hat Gaulke

(gemäss einem Interview im aktuellen gedruckten filmbulletin) bei seinen Recherchen noch etliche andere Kinobetreiber besucht und sich dann schliesslich auf diese vier konzentriert: Asien, Indien, Afrika, Nordamerika. Und ein eigenartiger roter Faden führt durch den Film: Es ist James Camerons Titanic, der zeitgenössische Inbegriff des Hollywoodschen Überwältigungskinos. Die indischen Landbewohner können mit dem Film nichts anfangen, die Afrikaner lieben ihn wie die Amerikaner und die Koreaner haben keine Chance, ihn je zu sehen zu kriegen. Und für mich persönlich ist Titanic auch ein Berührungspunkt zu Gaulkes Film. Oder eben nicht. Denn mir geht es mit „Comrades in Dreams“ wie es mir seinerzeit mit Titanic erging: Ich sehe das Konzept, ich verstehe die Attraktion, die es auf sein potentielles Publikum ausübt, allein, ich bleibe draussen, bei mir fliegt der emotionale Funke nicht. Insofern ist „Comrades in Dreams“ für mich zur Knacknuss geworden. Schliesslich bin ich cinéphil, kinoverrückt, filmsüchtig und ich habe den gleichen Hang zur Nostalgie wie die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen, die das Kino noch in seiner Zeit als Traumpalast erlebt haben. Aber bei diesem Dokumentarfilm geht mir das alles nur im Kopf auf und nicht im Herzen. Liegt es am klaren Konzept? Liegt es daran, dass für die Protagonisten ihr Kino nicht nur Traum und Hobby ist, sondern auch Beruf und Lebensunterhalt, also Geschäft? Auch bei Titanic hat mir konzeptuell alles eingeleuchtet, die süssliche Liebesgeschichte, das überspitzte Klassendrama. Und doch fragte ich mich von Anfang an, wo das Drama liegt in einem Film der eine der bekanntesten Sensationsgeschichten der Welt erzählt.

„Comrades in Dreams“ ist ganz offensichtlich ein gut gemachter, gezielt auf den Punkt gebrachter Film. Und ich bin überzeugt, dass er für die meisten Leute auch funktionieren dürfte. Ich habe mein Herz einfach schon früher verloren an die Kinokinofilme The Last Picture Show von Peter Bogdanovich (und die eigenartige Fortsetzung Texasville), an Ettore Scolas Splendor (und nicht etwa an den schamlos süsslichen Nuovo Cinema Paradiso), oder Joe Dantes Matinée.

Comrades in Dreams läuft ab 7. August im Kino in der Deutschschweiz. Spielorte und Information: trigon-film.

NIFFF: Lass den Richtigen rein – Låt den rätte komma in

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Låt den rätte komma in (Foto: Ascot Elite)

„Lass den richtigen rein“, so heisst ein Roman von John Ajvide Lindqvist und so heisst, auf Schwedisch, auch der innovativste Film, den ich bisher hier in Neuchâtel gesehen habe: Låt den rätte komma in. Gedreht hat ihn Tomas Alfredson, mit einem Mut und einer Radikalität, die selten ist im Kino. Oskar ist ein zwölfjähriger Junge, ein blonder Engel mit laufender Nase, der in der Schule von drei Kollegen gepiesakt wird. Bis in die Wohnung neben der seinen die zwölfjährige Eli einzieht, mit ihrem Vater. Eli erklärt ihm zwar als erstes, sie könne nicht seine Feundin sein, aber bald hängen die beiden sehr aneinander. Obwohl Eli nur bei Dunkelheit herauskommt. Einige blutige Nachbarschaftsmorde später erhärtet sich bei Oskar der Verdacht. Aber er und Eli haben sich gefunden, daran ändert „NIFFF: Lass den Richtigen rein – Låt den rätte komma in“ weiterlesen

NIFFF: Diary of the Dead von George A. Romero

Er ist und bleibt der Meister der Zombies. George Andrew Romero, der Vater aller Untoten, macht noch immer allen vor, wozu die lebenden Toten wirklich gut sind: Als Spiegel unserer Gesellschaft, als Doppelgänger von uns selbst. Sein jüngster Film nennt sich ganz programmatisch Diary of the Dead. Die Prämisse ist die gleiche wie immer: Die Toten stehen auf und sind hungrig. Aber diesmal ist eine Abschlussklasse von Filmmachern im Wald zu Werke, als die Epidemie losgeht. Und während die etablierten Medien zunächst Panik schüren und dann zu lügen beginnen, setzen sich die jungen Filmemacher in den Kopf, alles zu dokumentieren und vor allem, laufend über alle verfügbaren Kanäle, Mobiltelefone, Web etc. Material zu sammeln und zusammen zu stellen.

Während Romeros Hoffnung, dass das Web als demokratisches Infosystem die Wahrheit ans Tageslicht bringen würde, bereits ein wenig utopisch und naiv anmutet, ist seine direkte und unerschrockene Auseinandersetzung mit Waffen und Gewalt unglaublich erfrischend. Die jungen Leute in seinem Film reflektieren jeden Schuss, sei er aus Pistole oder Handycam, sie machen sich ein Gewissen, sie leiden. Im Gefolge all der hirnlosen Zombie-Ego-Shooter, die das Kino und die Gamewelt von Romeros Schöpfung abgeleitet haben, ist das unglaublich wohltuend.

Der alte Mann mit der grossen Brille hat hier einen brillanten Film gemacht, toll geschnitten als Mockumentary zwischen Blair Witch und Cloverfield, nach allen Regeln der Kunst montiert und trotzdem mit einer rohen, dokumentarischen Stimmung. Diary of the Dead ist der intelligenteste und raffinierteste Zombiefilm aller Zeiten: Weil er sich selber reflektiert und das auf eine einleuchtende und packende Weise. Ich freue mich, Romero, der zu den Stammgästen des NIFFF gehört, einmal mehr vors Mikrofon zu bekommen.

Cannes: Wim Wenders‘ Palermo Shooting

Wim Wenders Für die Franzosen ist er noch immer ein Kinogott, oder, noch besser: Einer der ihren. Für den Rest der Welt ist das unverständlich. Aber Wim Wenders bekommt am Filmfestival von Cannes wenn immer möglich den grössten Bahnhof. Heuer darf er mit seinem Palermo Shooting den Samstagabend bestreiten, den Galaabend vor der Preisverleihung am Sonntag. «Palermo Shooting» ist denn auch ein echter (Spät-) Wenders, ein Film voller wertvoller Gedanken und hölzerner Sätze, ein Film voller Bilder von ausgesuchter Gemacht- und Schönheit, eine Kompilation schöner Rock-Nummern. Campino von den «Toten Hosen» spielt einen erfolgreichen Fotografen in der Tradition von Antonionis Blow Up, dem der Tod aus Ingmar Bergmans Das siebte Siegel erscheint, in Gestalt von Denis Hopper ohne Augenbrauen. «Palermo Shooting» ist denn auch in aller Unbescheidenheit «Ingmar und Michelangelo» (die letztes Jahr am gleichen Tag gestorben sind) gewidmet. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich PS dem Thema des Bildermachens annimmt, unter anderem. Der von Campino gespielte Fotograf ist ein Apologet der totalen Künstlichkeit, er lässt seine grossformatigen Bilder von seinen Assistenten in wochenlanger Arbeit digital überarbeiten, setzt den Nachthimmel von Rio über Manhattan, synthetisiert seine Bilder aus dutzenden von Aufnahmen. Bis ihm der Tod, alias Denis Hopper, vorhält, die Fotografie, die ja eigentlich bisher vor allem ihm, dem Tod, bei der Arbeit zugeschaut hätte, habe mit dieser digitalen Manipulierbarkeit ihre Seele verloren und damit irgendwie der Fotograf auch die seine. Das ist starker Tobak von Wim Wenders, der neben George Lucas einer der ersten und vehementesten Verfechter des digitalen Kinos war. Aber die filmisch eingebetteten Gedanken kommen nicht von ungefähr im jetzigen Zeitpunkt, wo das CGI-Kino und die Computergames die grossen Leinwände der Welt zu übernehmen beginnen. Auch Steven Spielberg hat ja betont, er habe Indiana Jones 4 bewusst analog gedreht, weil Bluescreens für die Schauspieler und den Regisseur einfach nicht inspirierend seien. Die alten Männer werden nostalgisch, die einstigen Pioniere besinnen sich auf die grossen Werte, und das ist ja durchaus schön und ergreifend. Nur ist es im Fall von Wim Wenders und «Palermo Shooting» auch wieder sehr deutsch und thesenhaft, philosophisch raunend und dialogisch klobig. Wenders beherrscht die Bilder, nicht die Sprache. Das zeigt sich immer dann am deutlichsten, wenn im Film italienisch oder englisch gesprochen wird. Dann bekommen die Sätze eine Lebendigkeit, die ihnen im Deutschen abgeht. «Palermo Shooting» ist ein Film, der sich mit Leichtigkeit anschauen lässt, der einen auch mit Leichtigkeit bei sich behält, bis auf die wenigen Momente, in denen er unfreiwillig komisch wirkt. Aber er ist nicht der grosse Wurf, als der er sich gebärdet. Dafür ist er viel zu sehr Kompilation und Autozitat, ein Omnibus der Filmgeschichte und von Wenders‘ eigener Filmografie.

Cannes: Charlie Kaufman ufert aus

Synechdoche New YorkCharlie Kaufman, der geniale Drehbuchautor, der uns Being John Malkovich geschenkt hat, und Eternal Sunshine of the Spotless Mind, hat sich mit Synechdoche New York zum ersten Mal als Regisseur betätigt – und ist einigermassen gescheitert damit. Nicht, weil der Film schlecht konstruiert oder gar inhärent uninteressant wäre, sondern ganz einfach, weil dieses Story-Monster dermassen ausufert, dass das Publikum ermüdet aussteigt, lange bevor der Zerfall der Hauptfigur ihren Höhepunkt erreicht hätte. Im Zentrum steht der vom genialen Philip Seymour Hoffman gespielte Theaterregisseur Caden, dem das Leben zunehmende entgleitet. Seine Frau verlässt ihn mit seiner Tochter, seine Liebschaften scheitern, nur ein riesiges Stipendium hält ihn am Leben, das es ihm ermöglicht, ein ehrgeiziges Projekt zu realisieren: Sein Leben in Echtzeit. Das bedeutet, dass für jede Figur aus seinem Leben ein Schauspieler oder eine Schauspielerin einspringt. In einer riesiegen Halle wird New York als Bühnenlandschaft aufgebaut, inklusive der Halle selber. Und bald sind die Figuren nicht nur doppelt vorhanden, im Stück und in Cadens Leben, sondern dreifach oder mehr. Kaufman spielt seine Obsession vom Kopf, der sich im Kopf einen Kopf ausdenkt, in allen denkbaren Varianten durch, leider ohne damit neue Einsichten zu generieren. So verliert sich der Film bald in einer multiplen Versuchsanlage, in der einzelne Einfälle brillieren, aber die Stimmung immer mehr auf Verzweiflung zu läuft. Dass zum Beispiel Cadens Freundin in einem Haus lebt, das permanent in Flammen steht, macht Spass, zumal wenn man die amerikanische Redewendung dazu nimmt «they get along like a house on fire». Überhaupt ist Kaufmans Hang zu intellektueller Sprachspielerei zunächst sehr amüsant, mit der Zeit aber vor allem anstrengend. Nur schon der Titel, der mit jener Sprachfigur spielt, in der ein Teil das Ganze oder das ganze einen Teil bezeichnet, ist eine Blaupause des Prinzips, zugleich aber auch seine Erstarrung.

Cannes: Paolo Sorrentinos Il Divo

Il Divo von Paolo SorrentinoDer italienische Film hat wieder Helden. Und ganz an der Spitze von ihnen steht Paolo Sorrentino, der mich schon mit Le Conseguenze dell'amore und vor allem mit L'Amico di famiglia verblüfft hat. Sein jüngster Film dreht sich um Giulio Andreotti, einen der schillerndsten und langlebigsten italienischen Politiker überhaupt. Il Divo ist, knapp auf einen Nenner gebracht, der Film, den Oliver Stone wohl mit seinem Nixon gerne gemacht hätte, wenn er das Talent und die Vision dafür hätte. Das ist politlastige Dokufiktion in einem grotesken, hinreissend komischen Pop-Stil, den man gerade aus Italien nicht erwartet hätte. Sorrentinos Lieblingsdarsteller Toni Servillo spielt den Andreotti als Mischung von Nosferatu und Jabba the Hut aus Star Wars, als groteske Kunstfigur mit eben so viel Muppet-Show wie Realismus drin. Der Film und sein Soundtrack sind dermassen innovativ und temporeich, dass ich mir das ganze sofort noch einmal ansehen würde, trotz der unendlich vielen politischen Anspielungen, Verwicklungen, Querverweise. «Il Divo» ist kraftvolles, spöttisches, satirisches und gleichzeitig humanes Kino, wie man es aus Italien seit Fellinis mittlerer Periode nicht mehr gesehen hat. Zusammen mit dem zweiten italienischen Wettbewerbsbeitrag Gomorra von Matteo Garrone (in welchem übrigens Toni Servillo auch mitspielt) ist das wohl das stärkste Comeback einer nationalen Cinematographie, die ich je erlebt habe. Wäre da nicht auch noch der schreckliche Sangue pazzo von Marco Tullio Giordano in einer Spezialvorführung gewesen, müsste man sagen: Italien ist wieder da. Zumindest im Kino.

Cannes: ‚Adoration‘ von Atom Egoyan

Arsinee Khanjian in Atom Egoyans Adoration
Arsinee Khanjian in Atom Egoyans Adoration

Mit seinem letzten Film Where the Truth Lies hat mein armenisch-kanadischer Lieblingsregisseur nicht alle Kolleginnen und Kollegen überzeugt. Und auch sein diesjähriger Cannes-Beitrag Adoration wird die Meinungen weit auseinanderdriften lassen. Ich mag den Film. Es ist wieder ein «richtiger» Egoyan, mit all seinen Obsessionen, von der schichtweisen Aufdeckung eines vergangenen Dramas über das exzessive Spiel mit dem Bild im Bild im Bild (diesmal sind es Computer und Mobiltelefone, welche das Video beisteuern), bis hin zu seinen Fetisch-Schauspielern (zu denen ganz klar seine Frau Arsinée Khanjian gehört). Die Geschichte ist so komplex wiedramatisch, es geht um einen Sohn, der nicht genau weiss, wie es zum Unfalltod seiner Eltern gekommen ist, und um ein Drama-Projekt, das zur Übungsprojektion wird: Was, wenn der Vater ein Terrorist gewesen wäre, der die schwangere Mutter mit einer Bombe in ein Flugzeug geschickt hätte? Zwischendurch wird der Film emorm geschwätzig, wenn Teenager und Erwachsene parallel in Internetchatrooms die Konsequenzen und Motivation eines terroristischen Aktes diskutieren. Der Visualisierung zuliebe lässt Egoyan nicht ganz realistisch die Chatteilnehmer in bester Qualität auf einem mosaikartigen Bildschirm auftauchen. Aber das sind die Elemente, mit denen er seit Family Viewing von 1987 immer wieder exzessiv gespielt hat. In seiner komplexen Struktur erinnert «Adoration» an «The Sweet Hereafter» oder «Exotica», auch wenn der neue Film einen Hang zu kitschig weichgezeichneter Vergangenheit aufweist, der ein wenig befremdet. «Adoration» ist eine clevere Auseinandersatzung mit Hass, Leidenschaft und Motivation, Vorurteilen und Debattierlust. Eine Kopfgeburt, aber sehr kinogerecht.