Cannes 11: LE HAVRE von Aki Kaurismäki

LE HAVRE par Aki KAURISMÄKI (2)

Wie macht er das bloss? Da meinen wir, Aki Kaurismäki und seine Tricks zu kennen. Und nun kommt er, und dreht uns seinen Film einmal mehr in neuer Variation an. Und er macht Freude! Der aufrechte Schuhputzer mit der todkranken, von Kati Outinen gespielten Frau im Spital hilft einem Container-Kind aus Afrika. Alle Nachbarn aus dem armen, aber pittoresken Quartiert helfen dabei. Alle? Nein, einer, gespielt von Jean-Pierre Léaud, ist ein Salaud. Der Film ist sehr Kaurismäki, aber er ist – und das ist neu bei ihm – ironisch selbstreferentiell. Kaurismäki spielt hier mit den Elementen seiner früheren Filme wie ein Comic-Künstler. Es sind die wiederkehrenden Elemente und ihre Freistellung, welche dem Film seine Würze geben.

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Cannes 11: HORS SATAN von Bruno Dumont

HORS SATAN par Bruno DUMONT (1)

Dumont verblüfft sein Publikum immer wieder von neuem, eigentlich immer mit dem gleichen Prinzip: Er schaut seinen Figuren sehr lange und sehr geduldig zu bei dem, was sie so tun. Aber im Gegensatz zu seinem Publikum weiss er, was das ist. Wir finden es erst langsam heraus, normalerweise. Bei Hors Satan geht das auf den ersten Blick etwas schneller. Der etwas eigenartige Mann, der in den Dünen lebt und sich mit einer jungen Frau von einem der benachbarten Höfe angefreundet hat, betet viel. Bei jeder Gelegenheit fällt er in Dünen auf die Knie und betet. Und dann tut er wieder anderes.

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Cannes 11: THE TREE OF LIFE von Terrence Malick

THE TREE OF LIFE par Terrence MALICK (1)

Autsch. Da macht Terrence Malick nach Jahren sein lange ruhendes opus magnum fertig – und dann dies! Ein Hochamt auf das weisse US-Mittelklassevorstadtleben mit seinem Potential für Schmerz und Gottesglauben. Im Kern erzählt er die Geschichte einer MacDonalds-Werbung-Zielgruppenfamilie, bestehend aus Papa Brad Pitt, Engelsmama und drei Söhnen. Der Film eröffnet – nach etlichen Canyonaufnahmen, Sonnenaufgängen, Eclipsen und Meereswellen – mit der Meldung vom Tod des ältesten Sohnes, zu dem Zeitpunkt offenbar 19 Jahre alt. Es folgt eine protobiomakro-evolutionäre Erdsequenz, in der sich scheue Dinosaurier tummeln, bis ein Komet ihnen das Ende ihrer Zeit bringt. Alles dauernd unterlegt von existentiellen Fragen an Gott auf der Tonspur: Warum? Wann habe ich Dich erkannt? Wo bist Du?

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Cannes 11: L’APOLLONIDE – SOUVENIRS DE LA MAISON CLOSE von Bertrand Bonello

L'APOLLONIDE - SOUVENIRS DE LA MAISON CLOSE par Bertrand BONELLO (1)

Vielleicht war es Michel Fabers viktorianischer Bordell-Roman The Crimson Petal and the White, der ein neues Interesse an der alten Institution geweckt hat. Oder aber tatsächlich die französischen Debatten über Legalisierung und Besteuerung von Bordellen, wie Bertrand Bonello selber meint. Auf jeden Fall knüpft er mit seinem prachtvollen Ausstattungsfilm dort an, wo Louis Malle 1978 mit Pretty Baby aufgehört hat.

L’Apollonide ist ein Edelbordell am Ende der Belle Epoque in Paris, mitten in der Morgendämmerung des 20. Jahrhunderts, wie es im Film heisst. Marie-France, die Madame (Noémi Lvovsky), führt das legale und unter staatlicher Kontrolle stehende Haus mit eiserner, aber mütterlicher Hand. Ihre Mädchen bevölkern am Abend den prachtvollen Salon im Parterre, aufgeputzt und munter, willige und kostspielige Gespielinnen vor allem für reguläre männliche Gäste, vermögend samt und sonders, und in der Club-Atmosphäre zuhause. Einen Stock höher, in der Bel Etage, finden sich die nicht minder prächtigen Schlafzimmer, wo es zur Sache geht. Und unter dem Dachboden schliesslich teilen sich die „Working Girls“ die Dienstmädchenkammern und Betten. Aus dem Haus dürfen sie nur in Begleitung von Madame oder eines Kunden – alles andere würde als Strassenprostitution geahndet und ist verboten. Damit macht der Staat die Frauen zu Gefangenen – allerdings ohne dass der Film das wörtlich verkünden würde.

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Cannes 11: THE ARTIST von Michel Hazanavicius

THE ARTIST Michel HAZANAVICIUS (1)

Ein unerwartetes Vergnügen, dieses als Stummfilm im Akademie-Format und in Schwarzweiss gedrehte Nostalgie-Melodram. Während das Leuchtfeuer des männlichen Stummfilmstars verdämmert, kommt mit dem Eintritt in die Tonfilmära die Statistin zu Starstatus. Hazanavicius schwelgt in wunderschönen Schwarzweissbildern und liebevoll rekonstriertem Dekor. Film im Film, nein: Stummfilm im Stummfilm, immer schön mit Zwischentiteln. Ausser in einem Alptraum des Schauspielers, in dem alles lärmt und schnauft und knallt – bloss er hat keine Stimme.

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Cannes 11: LE GAMIN AU VÉLO von Jean-Pierre et Luc Dardenne

Thomas Doret, Cécile de France ©xenix
Thomas Doret, Cécile de France ©xenix

Ist das jetzt ein dardennifizierter Spielfilm oder ein verspielter Dardenne? Im Kern bleiben die Brüder dem menschlichen Drama treu, dem sie ihre bisherigen Filme gewidmet haben. Der nicht ganz zwölfjährige Cyril weigert sich zunächst zu glauben, dass ihn sein Vater einfach im Kinderheim zurückgelassen hat, dann findet er in der resoluten Coiffeuse Samantha eine Ersatzmutter – bis er sich einen lokalen Kleindelinquenten als Vaterersatz aussucht und selber delinquiert. Uff. Faszinierend ist nach wie vor, wie die Brüder vor dem stillen Schrecken im Leben nicht zurückzucken. Faszinierend ist ebenfalls, wie Cécile de France die unerschütterliche Ersatzmutter als Coiffeuse spielt, mit zweifarbigem Haar und Leopardendruckbluse. Und faszinierend schliesslich das Wiedersehen mit Jérémie Renier, dem Rabenvater aus L’enfant, in der Rolle des Rabenvaters.

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Cannes 11: MICHAEL von Markus Schleinzer

Regisseur Markus Schleinzer

Markus Schleinzer kommt aus der Haneke-Schule, daran lässt dieser Film keinen Zweifel. Kühl, distanziert, methodisch, pedantisch und präzise, wie die Titelfigur, handelt der Film seine Geschichte ab: Die letzten Wochen eines Mannes mit dem Zehnjährigen, den er in seinem Keller gefangen hält. Das sei keine verklausulierte Natascha-Kampusch-Geschichte, insistiert der Regisseur, und damit hat er bestimmt recht. Aber es ist ein Film aus Österreich, die Geschichte eines Mannes und eines im Keller des Mannes gefangenen Kindes. Dabei bleibt dem durchschnittlich aufmerksamen Zuschauer lange verborgen, welcher der beiden den Namen Michael trägt. Und wenn es dann klar wird, sind wir schon so weit, dass wir den Mann als Menschen erkannt haben, widerwillig, zwangsläufig.

Trennbalken Filmfestival Cannes 2011

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Cannes 11: PIRATES OF THE CARIBBEAN 4 – ON STRANGER TIDES von Rob Marshall

Johnny Depp und Penelope Cruz in 'Pirates 4'
Johnny Depp und Penelope Cruz in 'Pirates 4'

Ein Blockbuster muss sein, wenn auch „hors concours“, das gehört zu Cannes. Und wir hatten schon schlimmere, ich erinnere an die Festivalerföffnung 2004 mit Ron Howards unsäglichem Da Vinci Code. Da war im Jahr davor noch George Lucas‘ vollsynthetischer letzter Star Wars ein nostalgisches Kinoerlebnis dagegen, mit Darth Vaders klappsender Schnaufe als Begleitmusik zur montée des marches.

Und heuer also die vierten Piraten. Ich hätte mir ja für Gore Verbinskis surrealistische dritte Folge der Franchise etliche Filmpreise gewünscht. Das war ein Film, der Hollywoods Zwang zum Storytelling, zum verständlichen Plot und publikumsfreundlich-dialogischem Erzählen abgeschworen hatte und einfach nur nur Bilder spie, wie ein Komodo-Kamera-Drachen mit Photorhoe. Jetzt aber wird die Festivalehre dem doch eher überschätzten Rob Marshall zuteil. Immerhin gibt es keinen Grund zum Heulen: Number Four is alive.

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Cannes 11: HEARAT SHULAYIM von Joseph Cedar

Lior Ashkenazi in 'Hearat Shulayim' von Joseph Cedar
Lior Ashkenazi in 'Hearat Shulayim' von Joseph Cedar

Dieser Film ist eine komische Tragödie, eine Götterdämmerung zwischen Vater und Sohn, ein Hildebrandslied in Akademikerkreisen, oder, mit anderen Worten: Dieser Film erzählt auf komisch realistische Weise jene Geschichte, welche Kenneth Branaghs Thor hätte erzählen wollen. Der Titel wird mit „Fussnote“ übersetzt, und eine Fussnote im Werk seines Mentors und Lehrers ist die einzige akademische Ehre, die dem besessenen Talmud-Philologen Eliezer Shkolnik in Israel je zuteil geworden ist. Dafür hat sein Sohn in seinen Fussstapfen fast alle akademischen Auszeichnungen eingeheimst, die dem Vater verwehrt blieben, sogar die Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften. Was noch bleibt, ist der Israel-Preis, auf den der Vater seit über zwanzig Jahren vergeblich gewartet hat.

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Cannes 11: HABEMUS PAPAM von Nanni Moretti

'Habemus papam' Nanni Moretti, Michel Piccoli ©frenetic
'Habemus papam' Nanni Moretti, Michel Piccoli ©frenetic

Kardinal Ratzinger wurde Papst, weil er es wollte, und weil er jahrelang darauf hin gearbeitet hat. So stellen wir uns gemeinhin das Konklave vor, und so schildern uns zahlreiche Romane und Filme den Vatikan: Als Hauptquartier eines weltweit operierenden Konzerns, mit all den üblichen Machtkämpfen und Intrigen. Nanni Moretti nimmt die Papstwahl ernst, und damit erzielt er etliche sehr schöne komische Effekte. In seinem Konklave sehen wir die Kardinäle bei der Wahl des Papstnachfolgers nervös und innerlich betend: Nicht mich, mein Gott, bitte nicht mich. Aber Gott ist mit allen, ausser mit Kardinal Melville, alias Michel Piccoli. Und damit ist der Film, seinem dünnen Grundeinfall zum Trotz, gerettet. Denn Melville will nicht, er erleidet einen nervösen Zusammenbruch, bevor er vom Balkon aus die Menge auf dem Petersplatz begrüssen soll. Und wieder einmal wird klar: Michel Piccoli ist grossartig. Nicht ganz so grossartig ist Nanni Moretti selber. Er spielt den Psychiater, der bei gezogen wird, um den neuen Papst von seiner Versagensangst zu heilen.

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