Lore ist eingängig, plakativ, überzeugend und direkt. Es ist die Geschichte eines Kindes, das nicht nur schlagartig erwachsen werden muss, sondern gleichzeitig das Glaubenssystem verliert, das seine Welt zusammengehalten hat. Lore ist die älteste Tochter einer Nazi-Familie. Bei Kriegsende werden die Eltern verhaftet und Lore muss versuchen, sich mit ihren vier jüngeren Geschwistern, eines davon noch ein Baby, quer durch das sektorisierte und in Auflösung begriffene Deutschland nach Husum durchzuschlagen, zur Grossmutter. Und auf dem Weg wird ausgerechnet ein jüdischer Junge zum Begleiter und Beschützer der Kinder. Ein Untermensch, ein Feind, ein Unberührbarer – der auf Lore aber zunehmend faszinierend und anziehend wirkt
Das Entnazifizierungsstück gehört seit ein paar Jahren fix zu Locarno. 2009 war es Unter Bauern, letztes Jahr Achim von Börries‘ Vier Tage im Mai. Aber die deutschen Bemühungen bleiben weit abgeschlagen zurück hinter dem, was die Australierin Cate Shortland dieses Jahr auf Deutsch und mit deutschen Schauspielerinnen zeigt. Lore ist ein Drama, das radikal die Seite wechselt. Es zeigt nicht das Leiden der Juden, es sucht nicht die guten Deutschen. Lore zeigt, was es heissen kann, wenn ein Glaubenssystem zerfällt, was es heisst, den Herrenrassenanspruch aufgeben zu müssen und zu erkennen, woran man selber Schuld trägt.