Cannes: Die verkauften Fassaden

Carlton Hotel Cannes (c) sennhauser
Carlton Hotel Cannes (c) sennhauser

Die grossen Hotels an der Croisette verdienen nicht nur, in dem sie ihre Zimmer und Suiten zu überrissenen Preisen an all die Filmverkäufer und Produktionsfimen vermieten, sie geben auch Jahr für Jahr ihre Fassaden her, schlimmer als Basel seine Allmend für die FIFA… Am augenfälligsten ist immer das altehrwürdige Carlton, dieses Jahr mit voller Indiana-Jones-Beflaggung.

Cannes: Blut, Schweiss und Tränen

Waltz with BashirUff, ich brauche dringend eine homöopathische Dosis hirnloses Entertainment. Bis jetzt hat nämlich ein Filmhammer den nächsten abgelöst hier in Cannes. Auf die Gewalt der desozialisierten Blinden im Eröffnungsfilm Blindness folgten die Massaker von Sabra und Shatila in Ari Formans Waltz with Bashir, dann die Schwangeren und die Mütter mit ihren Kindern im argentinischen Frauen-Gefängnis in «Leonera» (Löwinnengrube) von Pablo Trapero, und darauf noch, höchst ästhetisch inszeniert, Blut, Schweiss, Scheisse und Hungerstreik in Irland im IRA-Film «Hunger» von Steve McQueen. Und nun hat uns auch noch der Türke Nuri Bilge Ceylan mit seinem dritten Film hier im Wettbewerb die menschliche Fähigkeit zu Feigheit und Grausamkeit mit einem furiosen Macho-Melodrama (Drei Affen) nähergebracht. Da gesellte sich zum Staunen über die inszenatorische Virtuosität noch die — zumindest mir — etwas peinliche Erkenntnis, dass ich mit den dargestellten, für uns eindeutig überholten, Vorstellungen von Männer- und von Frauenehre wahrscheinlich mehr hätte anfangen können, wenn der Film aus Thailand oder Korea gekommen wäre. Unser altes Problem mit der Türkei: Alles so nahe und doch so anders. Nun, wir wollen nicht klönen. Die Filme sind zwar erschütternd und deprimierend, aber sie sind auch alle ausgezeichnet bis jetzt.

Cannes: Ameisen im Keller

KEller Palais du festival, Cannes (c) sennhauserDas Festival besteht ja nicht nur aus Stars, Photographen, Touristen und Journalisten. Da sind auch noch hunderte von helfenden Geistern im Hintergrund. All die Leute, die für Agenturen oder Filmpromoter arbeiten, Interviews vermitteln, Wasserflaschen schleppen und all die Studenten und Schüler, die sich, um Teil dieses Zirkus sein zu dürfen, auch in den Festival-Keller verbannen lassen. Bei einigen bin ich ziemlich sicher, dass sie schon letztes Jahr im Gang hinter dem Studio von Radio France gesessen sind. Und bleich, wie sie aussehen, sind sie die ganze Zeit seither nie mehr rausgekommen. Das gäbe einen netten Gruselfilm: Le phantom du palais de Cannes.

Die Jury-Pressekonferenz

Cannes Jury 2008 (c) sennhauser

Die Pressekonferenz der Jury ist hier jedes Jahr der erste "People"-Anlass, die erste Möglichkeit, den Stars ein paar "Quotes" zu entlocken. Sean Penn musste erklären, warum er, der Filmwettbewerbe immer eher misstrauisch beäugt hat, nun doch die Jury von Cannes präsidiert. Und Natalie Portman erklärte diplomatisch geschickt, dass sie keinen US-Präsidentschaftskandidaten offiziell unterstütze, aber glücklich sei, dass sie endlich jemanden wählen könne, weil sie ihn oder sie besser mag, und nicht bloss, weil sie ihn weniger hasst als andere Kandidaten. Beide gibts hier im Oton als MP3-Clips:

Natalie Portman Jury Cannes 080514.mp3

Sean Penn 080514.mp3

Die Meute: Natalie Portmans Photocall

Wenn man draussen hinter dem Presseraum auf der Dachterasse des Festivalbunkers die Photographen brüllen hört, dann weiss man, es ist wieder Photocall. „NATALIIIIIEH“. Das Brüllen soll bewirken, dass die Objekte in die richtige Richtung gucken. Bloss: Wenn 50 Photographen gleichzeitig brüllen, ist das ineffizient. Wahrscheinlich dient es ohnehin eher der Triebabfuhr, denn was die Kollegen mit den Kameras hier treiben, ist noch ein Zacken schamloser, als das Metier der anwesenden Filmjournalisten. Nein, ich meine nicht das Paparazzen, das können die hier gar nicht. Aber 50 Kameras in einer Reihe machen nun mal einfach 50 identische Bilder. Das unterscheidet sich nicht von den Round-Table-Interviews mit den gleichen Stars, wo 12 Leute dem sogenannten „Talent“ je eine Frage stellen, der Reihe nach und dann kommt die nächste Gruppe dran.

Natürlich gehts auch anders. Es gibt immer wieder Photographen, die nicht die Standardbilder schiessen. Und auch als Journalist kann ich mich dem Fliessband verweigern. Ich kriege dann den Regisseur aus Argentinien, die Schauspielerin aus Portugal oder den Kameramann aus Holland für ein exklusives und ausführliches Gespräch. Wenn ich dann noch das Glück habe, dass ein Schweizer Filmverleiher den Film einkauft und ihn in der Schweiz ins Kino bringt, dann gibt das am Ende eine schöne Reflexe-Sendung für DRS2. Wenn nicht, dann war es ein anregendes Gespräch. Aber dafür schicken die meisten Redaktionen ihre Leute nicht nach Cannes. Also bitte keine blöden Sprüche über die Kollegen, welche hier das Spiel mitspielen.

Ein harter Brocken zur Eröffnung:

Julianna Moore und Mark Ruffalo in "Blindness" (c) Ascot Elite SchweizEs ist lange her, seit Cannes mit einem derartigen Hammer eröffnet wurde. Keine Frage, Fernando Meirelles Umsetzung des Romans «Blindness» von Literaturnobelpreisträger José Samarago ist ein beeindruckendes Stück Kino. Es ist eine naturalistisch-allegorische Apokalypse, die das Buch vorgibt: In einer Stadt bricht eine unbekannte Epidemie aus, Menschen erblinden von einem Moment auf den anderen und die Regierung beschliesst, alle Betroffenen in ein Quarantäne-Lager zu stecken. In diesem Gefängnis werden die Blinden sich selber überlassen und bald zerbricht der letzte Rest Solidarität in dieser isolierten Gesellschaft. Machtkämpfe, Egoismus und reine, tierische Gewalt beherrschen die Szenerie. Stellvertredend für uns, das Publikum, findet sich die von Julianne Moore gespielte Arztgattin als einzige (heimlich) Sehende unter all den Blinden in diesem «huit clos». Jahrelang

hat José Samarago sich geweigert, sein Buch überhaupt für eine Verfilmung freizugeben. Kino zerstöre die Vorstellungskraft, war sein Argument, und sein Buch sei auf die Vorstellungskraft angwiesen. Fernando Meirelles hat ein paar wirklich einfallsreiche Methoden angewandt, um seinem Publikum die Vorstellungskraft nicht wegzunehmen. zunächst wir die Blindheit von den Betroffenen nicht als Dunkelheit, sondern als einförmiges milchiges Weiss beschrieben. Das erlaubt dem Filmemacher graduelle Übergänge. Manchmal wird das Bild einfach immer heller, bis man gar nichts mehr erkennen kann. Manchmal nutzt er unsichtbare Jump Cuts, das heisst, Menschen und vor allem Hindernisse, in die sie hineinstolpern, befinden sich plötzlich woanders im Bild. Aber es ist nicht nur die Vermittlung der Hilflosigkeit des Nicht- Sehen- Könnens, sondern ein konstantes Spiel mit der Hilflosigkeit und der Wut generell… Dass der Film wie das Buch die Vorstellung einer Gesellschaft ohne jede Solidarität so konsequent durchspielt, dass zuerst eine Gruppe im Lager die Nahrungsversorgung unter ihre Kontrolle bringt und schliesslich, als alle anderen keine Wertgegenstände mehr haben, darauf besteht, die Frauen müssten ihnen zu Diensten sein, führt allerdings dazu, dass der Film zwischendurch etwas Parabelhaftes bekommt. Die gleiche Wirkung erzielt Meirelles auch mit Danny Glover in der Rolle des Erzählers, der periodisch ein bisschen kommentiert. Vielleicht braucht es aber auch diese Brüche mit dem Realismus, um den Film überhaupt aushaltbar zu machen. So kurz nach dem ersten Ansehen will ich noch nicht beurteilen, wie «nachhaltig» «Blindness» sein dürfte. Aber eine Behauptung setze ich gerne jetzt schon in die Welt: Meirelles hat mit diesem Film geschafft, was der Österreicher Michael Haneke immer angestrebt hat (und mit «Wolfszeit» wenigstens annähernd erreicht hat): Eine Emotionalisierung des Publikums, die nicht über die eingespielten Gut-Böse-Muster funktioniert (oder wenigstens nur teilweise), und daher auch nicht befreidigend abgeschlossen werden kann. Dazu passt auch der doppelte utopische Schlenker am Ende, der möglichweise verstörender nachwirkt, als der ganze vorangegangene Horror. Ein Kollege hat den Film als «Lord of the Flies» mit Erwachsenen bezeichnet. Das trifft allenfalls die Struktur, ganz sicher aber nicht den Kern dieser Geschichte. Ach ja: Die Schauspieler sind beeindruckend, insbesondere Julianne Moore in ihrer überaus ambivalenten Rolle.

Julianne Moore in "Blindness" (c) Ascot Elite Schweiz

Festivalauftakt Cannes: Fits like a Glover

Danny GloverDas war eine hübsche Ankunft am Flughafen in Nizza heute. Den gesponserten Fahrservice mit französischen Edelkarossen gibts ja seit ein paar Jahren nicht mehr für uns gewöhnliche Journalisten, wir kriegen stattdessen einen Gutschein für den Linienbus nach Cannes. Die Stars, die werden abgeholt. Aber anstehen müssen sie auch, zumindest beim Zoll. In der Reihe neben mir stand heute Danny Glover, der im Eröffnungsfilm Blindness von Fernando Meirelles eine kleine Rolle als Erzähler hat. Er ist US-Citizen, stand aber in der Reihe für EU-Mitglieder. Mich hätte die Zollbeamtin in die andere Reihe geschickt – von ihm wollte sie strahlend ein Autogramm. Nun, wir sind jetzt beide in Cannes, Danny Glover und ich. Das Festival kann beginnen.

Timetube: Rückwärts durch die Röhre gucken

Der riesige Video-(Mist-)Haufen YouTube ist längst zu einer unerschöpflichen Quelle für Filmausschnitte, Zitate, Szenen und grossen Kinomomenten im Winzformat geworden. Ein Problem des Videoportals ist allerdings seine nicht gerade raffinierte Suchfunktion. Nun hat das Mash-Up-Portal dipity.com eine neue Youtube-Mashup-Funktion, die aus einer beliebigen Reihe von Stichwörtern eine Videotimeline erzeugt. Da findet sich zwar immer noch viel Mist, aber die Clips sind (einigermassen) nach Entstehungsdatum über eine Zeitlinie verteilt. Für pophistorische Recherchen vielleicht nicht gerade das ultimative, aber doch ein unterhaltsames (und zeitfressendes) Tool.

Bei einer Suche nach «James Bond» bin ich zum Beispiel auf eine hübsche Zusammenstellung all der Bond-Vortitel-Sequenzen mit dem Blick durch den Pistolenlauf gestossen.

 

Nachtrag vom 28. Sept. 2019:  Jesse Davidson hat mich per Email darauf aufmerksam gemacht, dass dipity.com leider nicht mehr existiert. Dafür eine Reihe anderer Timeline-Generatoren. Hier seine Geschichte von dipity.com

Indiana Jones 4 – Schweigen, um zu brüllen

Auf der darauf spezialisierten Movie-Hype-Seite Ain't it cool News ist eine erste Besprechung des neuen Indiana Jones Film aufgetaucht. Und schon macht auch die New York Times einen Rubriken-Aufmacher daraus. Und gleich darauf folgen wir in der Blogosphäre und hypen vergnügt ins gleiche Rohr. Schweigen, um zu brüllen – das ist eine gute Werbemethode, wenn man es sich leisten kann. Steven Spielberg beherrscht das Spiel perfekt. In einer Woche, am 18. Mai, wird Indiana Jones and the Kingdom of the Crystal Skull am Filmfestival Cannes etlichen tausend Journalisten zum ersten Mal gezeigt. Bis dahin sollte eigentlich niemand den Film gesehen haben – danach möglichst sofort möglichst alle: Am 22. Mai ist Globalstart … dass die mediale Rückstau-Strategie funktioniert, merken wir nur schon daran, dass es zur Zeit noch Redaktionskollegen gibt, die leicht verblüfft sind, wenn ich erkläre, in einer Woche sei «Indy» für ein paar Tage das Hype-Thema Nummer eins.

Filmpodcast Nr. 76: Speed Racer, Prager Frühling und Kinoautomat, Zeit im Dokfilm (Nachlese Nyon).

Herzlich Willkommen zur 76. Ausgabe von Kino im Kopf mit Michael Sennhauser. Heute ausnahms- weise wieder einmal ein Soloprogramm von mir. Wir werfen einen Blick auf das bonbonbunte Spektakel Speed Racer von Andy und Larry Wachowski und wir nehmen ein Ohr voll vom Kinoautomaten, einem interaktiven Kinoexperiment aus der Zeit des Prager Frühlings. Dazu gibt es die üblichen Kurztipps und das Soundtrackspiel. Und schliesslich unterhalte ich mich mit Thomas Heise und mit Constantin Wulff, zwei überaus intelligenten Dokumentarfilmern, darüber wie sie bei ihrer Arbeit mit der Zeit umgehen. Und noch ein Hinweis in eigener Sache: Für die nächsten beiden Filmpodcasts muss ich mich mit Kürzestausgaben begnügen. Ich bin ab 13. Mai am Filmfestival in Cannes und da ziemlich beschäftigt. Immerhin habe ich vor, den Blog hier regelmässig mit Festivalkuriosa zu füttern, wer also Lust hat auf Neuigkeiten von Cannes, findet die hier.