Locarno 09: First Squad: ‚The Moment of Truth‘ von Yoshiharu Ashino, Aljoscha Klimov, Misha Shprits

first squad photo

First Squad: The Moment of Truth ist ein Filmhybride in mehrfacher Hinsicht. Die russisch-japanisch-kanadische Gemeinschaftsarbeit vereinigt populäre russische Kriegs- und Widerstandsmythen mit japanischer Anime-Technik auf hohem Niveau. Im Zentrum der Geschichte steht eine Gruppe toter Teenager-Agenten, also eigentlich Geister, welche von der einzigen Überlebenden der einst eingeschworenen Spezialeinheit Jugendlicher mit paranormalen Fähigkeiten zum Kampf gegen eine Horde germanischer Zombies aus dem frühen Mittelalter geholt werden. Diese Zombies unter der Führung des ruchlosen Barons von Wolff wurden von der geheimen SS-Einheit „Ahnenerbe“ reaktiviert im Kampf gegen die rote Armee im Winter 1942. – Ja, ich weiss. Aber tatsächlich ist es diese überbordende Fantastik, welche diesem Film eine spezielle Aura verleiht.

first squad zombie

Wie Aljoscha Klimov und Misha Shprits, die beiden russischen Schöpfer dieses Mythen-Kochers erkären, basiert die Grundidee des Films auf einer populären russischen Propagandabuch-Serie aus den 80er Jahren, die sich „Pionier Helden“ nannte und wilde Geschichten aus dem russischen Widerstand gegen Hitlers Armeen erzählte. Das waren illustrierte Bücher und offenbar das comic-ähnlichste, was in der damaligen Sowjetunion zu haben war. Das erkärt auch den pseudodokumentarischen Habitus des Films, der grossartig gezeichnete Anime-Sequenzen immer wieder mit real gefilmten „Veteranen“ und „Historikern“ unterbricht, die im klasssichen Dokumentarstil schön ausgeleuchtet erzählen aus wilden Zeiten.

So hirnrissig fantastisch die Geschichten auch sind: In Verbindung mit diesem dokumentarischen Element schafft der Film genau diesen irren Traumzustand, den ich aus der massenweisen Comic-Lektüre meiner eigenen Jugend kenne, dieses Gefühl, eine neue Welt kennengelernt zu haben, die sich einen Deut um Vernunft und Realität kümmert und dadurch einen gefährlich faszinierenden Sog entwickelt. Zwar wird mir heute physisch unbehaglich, wenn einer der „Historiker“ in diesem Film erklärt, natürlich sei der Krieg der Roten Armee gegen Hitlers Truppen ein „heiliger Krieg“ gewesen. Zugleich aber schafft die künstliche Mythologie von First Squad es auch, wieder einmal spürbar zu machen, wie enorm wichtig Propaganda und Ideologie für die Kriegsführung sind, und wie durstig gerade Jugendliche in dieser Hinsicht sind.

Für die grosse Manga-Anime-Nacht in Locarno hat dieser Film die Brücke geschlagen zwischen der modernen japanischen Anime-Produktion und dieser globalisierten Kultur, welche sehr effizient Teil-Mythen verquickt und weltweit zugänglich macht. Paranormale tote Teenager im Kampf gegen Germanenzombies sind ja auch nicht völlig unerhört. Ich erinnere nur an die Armee der Toten, welche im dritten Teil der Lord of the Rings-Verfilmung von Peter Jackson entscheidend in die Endschlacht eingreift. Der Moment of Truth des Filmtitels ist übrigens jener Moment der Wahrheit, in dem angeblich Geschichte geschrieben wird, das heisst, der entscheidende Moment eines Ereignisses, der eben entsprechend verändert werden muss, wenn man den Verlauf der Geschichte ändern will. Auch in First Squad ist es der Beginn einer Schlacht, deren Ausgang die junge Heldin mit ihren toten Freunden verändert. Wenn man dieses „Verändern“ auf die Mythologie, die Geschichtsschreibung, die Propaganda wirken lässt, wird First Squad: The Moment of Truth zu einem eigentlichen Schaustück in Sachen Propaganda und Wirkungsgeschichte.

Pardofell

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