DER RISS IN DER LEINWAND von Thomas Meier

Meier Thomas Der Riss in der Leinwand

Lange Zeit gab es nur noch wenige neue Einträge auf meinem Schweizer Lieblingsfilmblog, Sakkaden von Thomas Meier. Meier, Teilzeitlehrer in der Fantoche-Stadt Baden, hat mich fasziniert mit seiner ziemlich unkonventionellen Art, an die neuen Filme heranzugehen, seine Filmbesprechungen waren Kurzgeschichten über Kinogänger, sein kinogehendes Alter Ego und die Frauen und Männer, die ihn ins Kino begleitet haben – oder auch nicht. Das machte seine Texte zugleich persönlicher und universeller, denn diese Kinoerlebnisse waren wirklich solche: Filme, die ins Leben eindringen, bzw. Leben, die sich vom Kino vereinnahmen, verändern liessen. Unterdessen weiss ich, warum Meier nur noch selten gebloggt hat in den letzten Monaten, denn mittlerweile ist sein Roman erschienen, Der Riss in der Leinwand, ein Erstling, der das Prinzip der Blog-Kurz-Geschichten konsequent umsetzt in die lange Form.

Wie Meiers Ich-Figur im Blog ist auch der 26jährige Vincent ein kunstvolles Alter Ego. Musiker, Tag- und Nachtträumer, Kino-Gänger und Taugenichts, zugleich unentschlossen und wild entschlossen, verliebt bis über und unter beide Augen in die faszinierende Chloe, die ihm abhanden abkommt beim Versuch, herauszufinden, ob es sie wirklich gibt:

Der Vorhang öffnet die Werbefilme. Die Sitze neben mir sind unbesetzt. Ich lasse mich fallen, strample. »Mach mit mir, was du willst.« Sie spricht mir den Satz weg. Er passt nicht in ihren Mund, aber sie will nicht, dass ich ihn sage. Es ist ein Abschiedssatz, lange bevor sie veschwindet. Im Vorspann fliegt die Spiegelung eines Adlers über das bewegte Wasser. My reminiscence. I always thougt that for such a lovely river the name was mystifying: Cape Fear. When the only thing to fear on those enchanted summer nights was that the magic would end and real life would come crashing in. Für sie habe ich nur die Gegenwart, kein Damals. ich wüsste gerne, wie wir uns trennen, wie die Geschichten ihren Anfang nehmen und ihr Ende finden. Ich suche dich, will dich durch den Shredder lassen und mir aus deinen Fetzen eine Erinnerung zusammenkleben. Diese da.

Das ist der zweite Absatz des dritten Kapitels (Seite 27) mit dem Titel Cape Fear. Vierzehn Kapitel umfasst der Roman, jedes trägt einen Filmtitel, eingefasst von den Coen Bros. mit The Big Lebowski zu Beginn und Kusturicas Arizona Dream am Ende. Das ist ein kunstvoll gebautes Buch, mit gedrechselten Sätzen und gezielten Wiederholungen. «Wo Chloe nicht ist, tut’s weh» ist einer der Schlüsselsätze, ein anderer der von Chloe selbst zu Beginn des Lost Highway-Kapitels:

»Ohne Licht keine Wirklichkeit«, sagt Chloe und knipst die Nachttischlampe an.

Der Roman ist faszinierend und ermüdend zugleich, das hat mit seinem Konzept zu tun, aber auch mit seiner Beharrlichkeit. Dass Vincent nicht zu leben versteht, dass er die Wirklichkeit am Kinoerleben misst, dass er dauernd Fragen auf Antworten sucht und letzlich Chloe, wie das Kino, für zu gut hält, um wahr zu sein, das leuchtet einem schon sehr bald ein. Wie Chloe, will mir scheinen, begreift man als Leser das Manko dieses Vincents, der – einem Filmkritiker gleich – verzweifelt die Distanz sucht zu ausgerechnet jenem Objekt, dem er sich am liebsten völlig einverleiben würde.

James Stewart und Kim Novak in Hitchcocks 'Vertigo' von 1958
James Stewart und Kim Novak in Hitchcocks 'Vertigo' von 1958

Der Roman ist ein Erstling, sein Problem ist das gleiche wie das vieler ersten Filme: Grosse Pläne, lange Planung, grosse Hoffnungen und viel Energie sind da hineingeflossen. Was noch fehlt, ist das, was Meier in seinen kurzen Texten längst beherrscht: Die Reduktion, der Verzicht, die Auslassung. Wohl ist dieser ’stream of consciousness‘ eine fiebrige Trope, eine angemessene Form für den Gedankenstrudel, in dem sich die Figur befindet. Schwerer wiegt aber wohl der Umstand, dass dieser Vincent, ein spätpubertär versynapster Jüngling, auf die Dauer weniger interessant ist, als die Menschen, denen er begegnet, die Vollprojektionen wie die Rückprojektionen.

Tobey Maguire und Kirsten Dunst in 'Spiderman' von Sam Raimi
Tobey Maguire und Kirsten Dunst in 'Spiderman' von Sam Raimi

Der Riss in der Leinwand ist ein Roman für Kinogänger, vielleicht auch für Verliebte. Es ist ein Buch, das ein Mann einer Frau schenken kann, um sie gleicherweise zu umwerben wie zu warnen. Und es ist schliesslich ein Roman, der mir Lust darauf macht, in zwei drei Jahren den nächsten Anlauf von Meier zu lesen. Im Moment scheint er, vielleicht von der Sommerhitze, ein wenig ausgebrannt, ein bisschen orientierungslos. Chloe ist weg, und im Blog steht plötzlich ein relativ konventioneller Text zu Celda 211, illustriert nicht von Emma Isacson, sondern mit den üblichen Werbemitteln. Nicht die schlechtesten Voraussetzungen, um etwas Neues aus dem Alten heraus wachsen zu sehen. Thomas Meier hat das Rüstzeug, das Talent und jetzt auch die Erfahrung, um weiter zu kommen. Das ist ja das Wunderbare an Chloe: Sie wird immer da sein, weil sie immer fort ist.

Patricia Arquette in 'Lost Highway' von David Lynch
Patricia Arquette in 'Lost Highway' von David Lynch

Der Riss in der Leinwand, Thomas Meier, Edition Isele, 2010. 140 Seiten.

Eine Antwort auf „DER RISS IN DER LEINWAND von Thomas Meier“

  1. „dass dieser Vincent (…) auf die Dauer weniger interessant ist, als die Menschen, denen er begegnet“
    geht doch auch dem bürgerlichen Durchschnitt schweizerischer Kinobetrachtung so und wiegt sein Objekt selten auf (auch – oder gerade – wenn es schlecht ist).
    Jemand hat versucht, sein eigenes Kino zu machen, das ist natürlich prätentiös und wird auf die eine oder andere Art scheitern – auch darin – dass das eigene (Er)Leben über die „Objektivierung“ des Buches zur Nobilitierung drängt, ähnliches hat schon Ottokar Schnepf kürzlich versucht, da müsste aber eben schon etwas mehr Existenz sein.

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