Fünfundzwanzig Jahre nachdem an der Berlinale Bruno Nuyttens Camille Claudel mit Isabelle Adjani uraufgeführt wurde, kommt ein anderer Bruno und macht alles ganz anders. Bruno Dumont ist einer der eigenwilligsten europäischen Filmemacher, seine Art, dem Drama der Camille Claudel näherzukommen dezidiert unkonventionell.
Juliette Binoche spielt die in einem Heim für geistig Behinderte und Irre eingesperrte Künstlerin 1915, die Mitpatienten werden von geistig Behinderten gespielt. In einer Szene proben zwei von ihnen gar eine Szene aus Don Juan unter der Regie einer der Schwestern, die den in einem alten Kloster untergebrachten Betrieb betreuen. Da spielen dann also geistig Behinderte geistig Behinderte welche wiederum Theater spielen. Das bringt Camille zuerst zum Lachen, dann zum Heulen.
Zwanzig Jahre nach der Trennung von Auguste Rodin sieht sie sich noch immer als Opfer seiner Angst vor ihrer künstlerischen Potenz, ist überzeugt, man wolle sie vergiften und sie sei von der Familie und Rodins Freunden aus dem Weg geräumt geworden. Das alles erschliesst sich aus einem Brief, den sie heimlich schreibt, einer kurzen Sitzung mit dem Anstaltsleiter und etlichen Szenen aus dem Heimalltag.
Dabei bleibt Dumont anders als in früheren Filmen sehr klar und verbindlich. Was er zeigt, spricht für sich selber, das Leiden, die Trauer, die Angst der Frau sind eindeutig und schmerzlich fühlbar. Offen bleibt nur ihr tatsächlicher geistiger Zustand. In den meisten Szenen des längeren ersten Teils des Films leidet man mit Juliette Binoches Camille ungeachtet der persönlichen Vorstellung von ihrem Zustand: Was sie schrecklich findet an ihrem Dasein, ist objektiv schrecklich, daran ändert die sichtlich liebevolle und rücksichtsvolle Betreuung der Insassinnen durch die Schwestern gar nichts.
Die flirrende Verwirrung, welche Dumonts Filme so oft dominiert, kommt erst zum Tragen, als der von Jean-Luc Vincent gespielte Bruder, der Dichter Paul Claudel auftaucht. Schon tagelang hat sich Camille auf den angekündigten Besuch des Bruders gefreut. Doch bevor er endlich in der Anstalt eintrifft, lernen wir ihn kennen, wie er mit seinem sputternden Ford T über die Landstrasse und die ungeteerten Bergstrassen fährt, einem Priester von seiner Erweckung zum Glauben erzählt und in seinem eigenen Tagebuch notiert, wie ähnlich er seiner Schwester sei, wie sehr wohl nur sein Glaube und seine Gründlichkeit beim Denken ihn vor ihrem Schicksal bewahrt habe.
Die eigentliche Begegnung der Geschwister ist dann eine kurze und schroffe Angelegenheit. Paul fordert von Camille Disziplin und Dankbarkeit dafür, dass die Familie sie mitten im Krieg in einem derart luxuriösen Heim untergebracht hat. Und Camille ergibt sich anscheinend ohne Widerspruch ihrem Schicksal: Der Bruder war ihr nicht nur letzte Hoffnung, sondern wohl auch finale Autorität.
Bruno Dumont und Jean-Luc Vincent zeichnen Paul Claudel als dermassen seltsame Figur, als Kunstprodukt seiner eigenen Glaubensseligkeit, dass Camille neben ihm allem Schmerz zum Trotz wie das blühende Leben wirkt. Was das genau auslöst beim Zuschauen ist nicht so leicht zu beschreiben. Am ehesten stürzt es einen in das Dilemma zwischen Leidenschaft und Disziplin, Leben und Kunst: Dieses Dilemma, dem man am leichtesten mit Verklärung der verzehrenden Leidenschaft beikommt, also mit jenem Bild der Camille Claudel, das Bruno Nuytten 1988 mit Isabelle Adjani auf die Leinwand warf.
Die echte Camille Claudel hat nach 1915 noch rund dreissig Jahre in der Anstalt verbracht, ihr Bruder Paul starb gar erst 1955. In dem Jahr übrigens, in dem im Pariser Vorort Gennevilliers Isabelle Adjani geboren wurde.