Es ist der erste Kinofilm von Fred van der Kooij seit sieben Jahren – und er sprengt gleich wieder alle künstlichen Grenzen zwischen Musik, Film, Raum und Bewegung. Schon der Titel ist ein schillerndes Programm: Die Verliese des Flüchtigen. Das klingt nach dem schmachtenden Graf von Montecristo, aber auch nach jenem flüchtigen Duft, den man nur im Kopf festhalten kann, die olfaktorische Komponente der Erinnerung. Im Film hat eine Frau in klaren Glasflaschen den Geruch der wichtigsten Tage ihres Lebens eingefangen. Die Flaschen stehen auf einer Kommode und die Vergangenheiten lassen sich teilen – mit jenen, welche die Nase dafür haben.
Fred van der Kooij ist einer der originellsten Köpfe zwischen Film und Musik in der Schweiz. Ein Theoretiker, der praktisch denkt, ein verspielter, verschmitzter Analytiker mit scharfen Augen und noch schärferen Ohren. Sein Buch Über das Filmische ist eine schier unerschöpfliche Quelle für immer wieder neue Entdeckungen in alten Filmen, seine Auseinandersetzung mit Kunstwerken ist umfassend und uferlos: Schwimmen erwünscht.
Vor ein paar Tagen hatte ich die Ehre und das Vergnügen, die mehr oder weniger definitive, aber noch unkorrigierte und nicht fertig gemischte Endfassung von Die Verliese des Flüchtigen im modernen Äquivalent des Schneideraums ansehen zu dürfen. Deutlich über drei Stunden lang ist der Film, und von einer bewusstseinserweiternden Substanz, der man sich einfach ergeben muss – so man denn kann.
Das erste, was auffällt, ist das Bildformat: Ein quadratisches Bild hat van der Kooij gewählt. Nicht das klassische Akademieformat und schon gar nicht eine der heute allgegenwärtigen 16:9 Varianten. Das Quadrat erinnert an die Endgültigkeit alter Polaroidfotos und zugleich permanent an die Blickführung durch den Filmemacher, ganz besonders, wenn man es auf einem 16:9-Computermonitor ansieht. Da setzt einer nur einen Teil der vorhandenen Nutzfläche ein und erzielt gerade dadurch eine zusätzliche Raumtiefe.
Dieser Raumtiefenillusion leistet van der Kooij auch noch inszenatorisch Vorschub. Wenn der Sänger und Schauspieler Christoph Homberger in einer der ersten Sequenzen in der Küche waltet, drängt zuweilen von unten eine Art Hades- oder Kellerküche mit einem Kellner-Chor ins Bild. Diesem Oben und Unten in der Bildverbindung entspricht eine sich erst langsam erschliessende Gleichzeitigkeit aller Handlungs- und Erzählebenen. Erinnerungen und ihre Beschwörung, Begegnungen und ihre Wirkung sind irgendwann nicht mehr chronologisch geordnet, sondern assoziativ gleichzeitig.
Der Synästhesie der Bilder gesellt sich eine kompositorisch-sängerische Ausarbeitung, welche sich einem unmusikalischen Büffel wie mir allenfalls ahnungshalber erschliesst – von der ich aber annehmen darf, dass sie dem gleichen Schalk und der gleichen wilden Verkettungsmanie von allem mit allem folgt, die ich in den Bildern und Bewegungen immer wieder ausmache.
Wer im Verlaufe dieses Film in einen tranceähnlichen Zustand gerät, wird in der Regel durch sein eigenes Lachen wieder wachgeschnappt. Es gibt Momente, welche pure Kalauerqualität entwickeln, auf der bildlichen Ebene, aber auch in den Dialogen. Und manchmal versteckt sich ein cartoonartiges Element in der Nachbearbeitung der diversen digitalen Bildformate. Van der Kooij hat über sechs Jahre an diesem Film gearbeitet und dabei immer wieder mit neuen digitalen Aufnahmetechniken und -Formaten klar kommen müssen. Nun ist auch diese zwangsweise Formathomogenisierung Teil des Gesamtkunstwerkes geworden.
Für alle Erklärungshuber und Sinnsucher liefert Fred van der Kooij im letzten Drittel des Films übrigens eine Art Gebrauchsanleitung. Ein alter ego (altes Ego?) unternimmt als Gutenachtgeschichte mit einem kleinen Mädchen eine virtuelle Bildbegehung durch Velazquez‘ „Las meninas“ – ein Exkurs, welcher direkt aus van der Kooijs Vorträgen oder Texten stammen könnte.
Die Hinweise, welche dem Mädchen bei der Entschlüsselung und vor allem dem „Lesen“ des Bildes helfen, kommen von verschiedenen Ebenen. Da geht es um die Motivation des Malers, den sozialen Status der Figuren und des Malers, die Beziehung des Spiegelbildes des Malers zur Spiegelung der Königin in der Zwergin vorne rechts, und viele ähnliche Bezüge. Neben dem Umstand, dass diese Hinweise rückwirkend die gestalterischen Zirkelschlüsse des Films in einen neuen Zusammenhang setzen, geben sie auch einen Impuls, den Film gleich wieder von vorne sehen zu wollen. Und damit ist man in die zyklonartige Spiralbewegung des Werkes eingesogen und sitzt gleichzeitig plötzlich bequem im Auges des Sturms.
Die Verliese des Flüchtigen ist definitiv kein Massen-Publikumsfilm, kein auf Niederschwelligkeit ausgerichtetes Konsumprodukt, sondern ein hochkomplexes, witziges und rhizomartig wucherndes Meta-Kunst-Werk. Oder mit anderen Worten: Ein Gesamtkunstwerk. Wenn ein begabter und neugieriger Mensch wie Fred van der Kooij gleichzeitig als Analytiker, Historiker und als Künstler an die Kunst herangeht, dann passt er natürlich in keine gängige Kategorie. Sowohl bei den Finanzierungsbelangen wie auch im Auswertungskomplex siedelt er seine Arbeit zwischen Stuhl und Bank an. Allerdings setzt er sich nicht einfach fahrlässig in diesen an sich trägerlosen Raum, sondern er macht ihn tragfähig, füllt ihn mit Bezugslust und intelligentem Können.
Es wird wohl noch bis ins nächste Jahr dauern, bis eine definitive Fassung ins Kino kommt. Und ich bin jetzt schon gespannt darauf, wer sich wie auf diese Verliese und ihre überraschende Freiheit einlassen wird.
Die Verliese des Flüchtigen
Besetzung: Nikola Weisse, Peter Schweiger, Christoph Homberger, Rebekka Burckhardt, Matthias Schoch, Ursula Maria Schmitz, Lea Whitcher, Helmut Vogel, René Ander-Huber, Anna Maria Tschopp, Rahel Schmid, René Peier, Sylvie Xing Chen, Michèle Rohrbach, Stefan Camenzind, Marianne Weber, Mirjam Hofmann, Alisa Miloglyadov, Walter Küng, Lucas Keist, Michael Raschle, René Schnoz, Roman Weishaupt, Erwin Ardüser, Franca Frey, Andrea Greminger, Ayosha St. Maarten, Marie-Therese Mäder, Roger Nydegger, Hans H. Schellenberg , Alexander Tscherneksowie die Sängerinnen:
Anna Gössi, Ursina Leuenberger, Julia Schiwowa und Patrizia HäusermanKamera: Adrian Zschokke
Licht: Roland Koch
Ton: Reto Stamm, Rolf Frey, Manu Gerber
Maske: Ronald Fahm, Anna Wyrsch-Schiess, Nora-Li Hess
Dirigent: André Bellmont
Mischung: Christian Beusch
Buch, Ausstattung, Malerei, Tongestaltung, Musik, Schnitt, Aufnahmeleitung, Produktion und
Regie: Fred van der Kooij
Herzlichen Dank für die mitreissende Filmkritik, welche das Wasser im Mund schmelzen lässt vor Vorfreude auf das filmische Wunderwerk!