Vor sechs Jahren ging Lynne Ramsay den Schuldgefühlen der Mutter eines Amokläufers nach, hier in Cannes, mit We Need To Talk About Kevin. Mit Ratcatcher und Morvern Callar, ihren vorherigen Filmen, erwies sich die einstige Fotografin als immenses Talent aus Schottland.
Vernachlässigte Jugendliche, komplexe Beziehungen, oder das Problem einer Mutter, deren Sohn in der Schule Amok läuft: Bei ihr gerinnt die scheusslichste Wirklichkeit in starke, oft verstörende Bilder.
Mit Joaquin Phoenix in der Rolle eines schweigsamen, leidenden Killers hat sie nun beinahe einen Genre-Film gemacht. Allerdings einen, dessen Plot sie nur als Trampelpfad interessiert. Was wirklich passiert, findet sein Echo im massigen, vernarbten Körper und im Gesicht hinter dem grauschwarzen Bart von Joe.
Als Killer wird er schon in den ersten Bildern erkennbar, in einem schäbigen New Yorker Hotel räumt er in einem Zimmer auf. Blutige Kleiderfetzen, ein Mädchen-Collier mit einem Namen, einen blutverschmierten Hammer. Wen er umgebracht hat, werden wir nie erfahren.
Warum, allerdings, das wird nach einer Weile klar. Joe befreit entführte Mädchen, im Auftrag ihrer Eltern, aus Kinderbordellen oder der Pädophilen-Abteilung eines Edelpuffs für Politiker. Er holte die Mädchen raus und hinterlässt totgehämmerte Männer, Bodyguards und Zuhälter.
Joe hat in Queens eine fragile, liebenswürdige alte Mutter, mit der er in einer Art Symbiose lebt. Rückblenden deuten an, dass er und sie unter dem gewalttätigen Vater gelitten haben.
Aber eben: Diese Rückblenden. Die Tonspur. Die Bilder. Ramsay hält das alles im Fluss, übergreifend. Da hört man immer wieder ein Mädchen rückwärts zählen. Joe hat Flashbacks, wie er als Soldat im Iran beobachtet hat, dass ein Junge mit einer Pistole ein Mädchen erschoss, für den Schokoriegel, den Joe ihr Minuten vorher durch den Zaun zugesteckt hatte. Oder er erinnert sich an einen Camion voller erstickter Asiatinnen, auf den er bei einem FBI-Einsatz gestossen war.
Das Gerüst kommt vom Killer-Thriller, der Geschichte vom guten Mann, der durch die Schlechtigkeit der Welt watet, um den letzten Rest Unschuld zu retten. Das ist Mad Max, das ist, gegen Ende des Films, gar Léon von Luc Besson. Aber für Ramsay sind es die verknüpften Momente, die zählen.
Der Augenblick des Erkennens bei dem Mädchen, das er rettet. Der Moment, in dem er dem Mann, den er für den Mord an seiner Mutter niedergeschossen hat, die Hand hält und mit dem Sterbenden „I’ve never been to me“ singbrummelt. Komische oder ergreifende oder entsetzliche Momente, die im Fluss des Films auftauchen und im Wirbel wieder abtauchen.
Dieser Film ist dermassen durchkomponiert, von den Bildern über die Musik bis zur mehrfachen Tonspur und dem Sounddesign, dass man in die Versuchung kommt, Plot und Figuren zu vergessen und sich einfach treiben zu lassen. Aber dafür passiert dann doch wieder zu viel, und zu viel Entsetzliches.
Wie bei Sergei Loznitsa steigert sich der Sog der Bilder und des Geschehens. Aber wo Loznitsa nur noch die russische Welt als Menschenhölle konstatiert, lässt Ramsay das Licht nicht komplett aussen vor. Selbst als Joe die Leiche seiner Mutter im See versenkt und sie beim Sinken begleitet, mit Steinen in den Taschen, sind die Unterwasserbilder voller Schönheit.
Es ist schwer zu sagen, wo Lynne Ramsay mit diesem Film hin wollte. Aber die Reise ist faszinierend und ihre Kunstfertigkeit unbestreitbar.