Animation in Annecy, Ausgabe 2017

(Refrain im Lied des Sponsor-Trailers zu Beginn aller Vorstellungen)

Von Rolf Bächler

Wenn jemand meint, ein Festival, auch wenn es schon sehr gross ist, hätte Wachstums- oder Sättigungsgrenzen, so ist Annecy bestrebt, von Mal zu Mal das Gegenteil zu beweisen: Erweiterung der Anzahl und Definition der Kurzfilmwettbewerbe (will heissen unumgänglich für den Berichterstatter). Erhöhung der Zahl der Leinwände im Zentrum, von sechs auf acht (von insgesamt zwölf, plus vier unter freiem Himmel). Ausdehnung auch der Anwendungsbereiche des animierten Bilds: Neu zählen auch Virtual-Reality-Produktionen, die sich seiner bedienen, unter dem Etikett vr@annecy zur offiziellen Selektion. Ausserdem hat die Zahl der Akkreditierungen die symbolische Schwelle von 10‘000 überschritten.

Der Mifa, der internationale Fachmarkt, steht in Sachen Expansion nach allen Seiten nicht zurück und bekräftigt so seine Spitzenposition in der Branche (Verlängerung um einen Tag, Ausdehnung der Ausstellungsfläche, Zunahme der Aussteller, über 3‘000 Akkreditierungen).

Jedoch, je mehr es zu sehen gibt, desto weniger sieht man. Was wiederum das Leben des Berichterstatters erschwert, der im Hinblick auf ein faires Urteil, zum Beispiel über eine Wettbewerbskategorie, gehalten ist, bei der Auswahl eine gewisse Kohärenz zu beachten. Was unter dem Strich seinen Vorführungsplan bestimmt, sind somit weniger seine Vorlieben als vielmehr der Verzicht.

Festivalleiter Marcel Jean © G. Piel (Festival)

Marcel Jean seinerseits, in seinem fünften Jahr als künstlerischer Leiter, fährt fort, das Angebot neu zu gestalten und ihm mehr denn je seinen Stempel aufzudrücken. Angesichts von Annecys Status als ältestem und grösstem Animationsfestival betrachtet er es als Verpflichtung, dass die sogenannt offizielle Auswahl vor allem die aktuellen Trends widerspiegelt.

Zu den Kurzfilmen: Wenn es ein Etikett gibt, das nicht passt, dann Mainstream. Dafür war es kaum möglich, ohne irgendwelche Irritationen aus einer Vorstellung zu kommen, die indessen wiederum nie von allen geteilt wurden. Da aber der Begriff aktueller Trend nichts über Geschmack oder Bildung oder sonst was bezüglich der AutorInnen aussagt, sah man sich bisweilen auch mit unbefangener Unbedarftheit oder monumentalem Kitsch konfrontiert.

Was nicht zu überraschen vermag, ist die Vermischung aller möglichen Techniken dank Computer. Auffällig ist allerdings der Schwindgang des digitalen 3D, der vom Wiedererstarken des haptischen Volumens wettgemacht wird. Am eindrücklichsten dabei – persönliche Meinung – der sogenannt klassische Puppenfilm, wobei mehrmals durch das Thematisieren der Situation im Aufnahmestudio eine Metaebene ins Spiel gebracht wurde. Bravurös: Ossa, eine einzelbildweise getanzte Tour de force des Italieners Dario Imbrogno.

Drei Jahrzehnte nach dem mit gutem Recht legendären Luxo Jr. fährt das computergenerierte Volumen fort, alle von seinen Jüngern mit Inbrunst geweckten Hoffnungen zu enttäuschen: alles gleicht sich, alles wiederholt sich. Dabei haperts vor allem bei der Animation, genauer beim Schauspiel und der Mimik, welche auf die strikt beim Wort genommenen «zwölf goldenen Regeln» der Disney-Bibel eingekocht und per Tastenduck abrufbar sind. Sicher gibts lustige Momente, aufregende, bewegende, usw., aber nicht mehr als je zuvor, dafür immer mehr stereotypisiert (oder dann ist es einfach offensichtlicher). Auch pompöse Präsentationen («Event Sessions») und Lobpreisungen von Software, die noch feinere Pelze in noch kürzeren Bruchteilen eines Augenblicks zu berechnen vermögen, können nicht länger darüber hinwegtäuschen, dass selbst Pixar sich langsam erschöpft, zu sehen (oder lieber doch nicht) am Beispiel von Cars 3.

Die wenigen interessanten Vorschläge kommen von den äussersten Rändern der Anwendung der Technologie: Von der puren Echtzeit-Simulation, wie sie von Spielentwicklern genutzt wird, was dem digitalen Puppenspieler/Regisseur Veselin Efremov erlaubt hat, fast wörtlich in die Roboter-Haut seines Adam zu schlüpfen, um den Leidensweg dessen industrieller «Geburt» aufzuzeichnen.

Und von der rein experimentellen Seite der abstrakten Bildbearbeitung, die das Reale eher evoziert als simuliert, womit es Boris Labbé gelingt, uns vorzugaukeln, dass wir, in göttlicher Trance, zuschauen können, wie Gebirge sich formen (Orogenesis).

Was die Langfilme betrifft, so hat sich meist die Natur der Sache durchgesetzt – je grösser der Einsatz, desto geringer der Wagemut. Nichts Aussergewöhnliches dieses Jahr, weder bezüglich Form noch Inhalt. Selbst wenn sich einer als künstlerisches Experiment positionierte: Was ist von einem Bio-pic über Van Gogh zu erwarten? Nun, dass seine Malerei animiert ist – aber wozu soll das gut sein? Gäbe es zur Person noch etwas zu entdecken? Falls ja, war es allerdings nicht ersichtlich (Loving Vincent).

Immerhin zwei Werke hoben sich etwas ab: Tehran Taboo (im Wettbewerb) durch seine aktuelle ebenso politische wie gesellschaftliche Dringlichkeit, und 1917 – Der wahre Oktober (ausser Konkurrenz) wegen seiner verspielten Anwendung einer der einfachsten Animationstechniken für eine unaufgeregte, als Dokumentarfilm aufgezogene geschichtliche Reflexion, die den Widersprüchen der Realität Platz einräumt.

Kein Festival ohne starke Momente, zwei oder drei Dinge, die sich in der Erinnerung abheben.

Der aussergewöhnlichste und bewegendste Moment des Festivals, alle Filme und Feiern inklusive: Louis Schwizgebel, der zu Beginn der Abschlussgala den vielfach preisgekrönten Film Erlkönig (nach dem Gedicht von Goethe und der Musik von Schubert) am Flügel direkt auf der Bühne des grossen, bis auf den letzten Platz gefüllten Bonlieu-Saals begleitete, anlässlich der Verleihung des Ehren-Kristalls 2017 an seinen Vater Georges. Atemberaubend.

Louis Schwizgebel am Piano: ‚Erlkönig‘

Die Überraschung schlechthin, ohne jede Vorwarnung: Am selben Ort, etwas später, die Uraufführung von La Bataille de San Romano, des neuesten Werks des an diesem Abend geehrten Grossmeisters der animierten Malerei. Es besteht in einer Kreisbewegung innerhalb eines Gemäldes von Paolo Uccello von ca. 1456, Teil eines Triptychons aus der Zeit des Übergangs von der Gotik zur Renaissance (effektiv der erste Kunstdruck, den sich der damalige Grafiker als junger Mann leistete, einige Zeit bevor er sich mit Animation zu befassen begann, und der auf wundersame Weise den Lauf der Zeit überlebt hat). Das Erfassen des sich wie ein fiebriger Traum abwickelnden Geschehens ruft jedoch nach mehreren Wiederholungen, um alle Details der Handlung zu erfassen, den Erzählstrang, die unglaubliche Raffinesse des Autors, und die subtile Musik von Judith Gruber-Stitzer.

‚La Bataille de San Romano‘ von Georges Schwizgebel (CH, 2017)

Die am wenigsten lustige Entdeckung: Am Vortag, dem vorletzten Tag des Festivals, die Feststellung, dass eine nette Person sich meines Exemplars des «Essentiel» (= Das Wesentliche) angenommen hatte, des Programmhefts des Festivals. Aufzeichnungsort all meiner Notizen zu Filmen während der Vorführung, Gesprächen mit deren AutorInnen, und anderer Bemerkungen, Memos, Adressen. Eine Ansammlung von Wortkürzeln in winziger Klaue, kunterbunt französisch-deutsch-englisch – ein mehr (ab-)genutztes Exemplar als jedes andere… die Ernte des Berichterstatters halt. Das Wesentliche in der Tat. Was sie (die Person) damit gemacht hat, wer weiss?

Es lebe die Erinnerung. Die sich allerdings als Enttäuschung erwies, besonders für jemand, der den Ruf hat, jene eines Elefanten zu eignen, und sich sogar schmeichelte, selbst daran zu glauben. Unfähig, den Gehalt des ins verlorene Wesentliche Gekritzelten wiederzugeben. Die befremdliche Feststellung, dass es nicht wirklich viel des Gesehenen und Erlebten geschafft hat, sich darin einzuprägen. Wenn ich mich aus der Affäre gezogen habe (an den Lesenden, das zu beurteilen), dann nur dank dem «Officiel» (dem Katalog, gefühltes Gewicht ca. 5 kg). Dann halt. Es lebe der Katalog.