Wenn der Mann zu Beginn dieses Films über die schwarzweissen Geleise flüchtet, durch den strömenden Regen und dann durch einen Untergrund-Tunnel mit Hintergrund-Licht, wartet man eigentlich bloss noch auf Anton Karras‘ Zithermusik und Orson Welles.
9 doigts gibt sich nie als Parodie zu erkennen. Aber die Diskrepanz zwischen den vielen pseudophilosophischen Sentenzen, welche die Figuren absondern, und den grossartigen, evokativen Neo- oder Pseudo-Noir Einstellungen ist offensichtlich.
Dieser Film gebärdet sich auf der Ebene des Bildes wie der ultimative Abenteuer-Trip aus der Hochblüte des Vor-Farben-Kinos. Da drin steckt das Versprechen der Überfahrt aus dem Original-King Kong, die Lebensfluss-Metapher von Vigos Atalante, das pestverseuchte Totenschiff aus Murnaus Nosferatu und hunderte weiterer Erinnerungen an prägendes Kino.
Gleichzeitig schmeisst der endlos rotierende Plot so mit Ausstattungs-Details und Namen um sich, dass man am liebsten eine Liste führen möchte. Einer der seltsamen Anführer-Gangster heisst Kurtz und hat nach allgemeinem Dafürhalten nicht nur den Verstand verloren, sondern auch den Weg ins Herz der Finsternis.
Zwei Frauen sind dabei, eine Greta und eine Drella. Die eine scheint etwas zweideutiger, die andere, jüngere, deren Bruder ermordet wurde, ist eindeutig eindeutiger.
Licht und Dunkelheit sind stilgerecht, die modernen Mercedes-Fahrzeuge und die Mobiltelefone dagegen gut integrierte Stilbrüche.
Dass die zentrale Figur Magloire heisst und der geheimnisvolle, gesichtslose Strippenzieher im Hintergrund Neuf doigts, weil seine Opfer als Warnungszeichen für alle anderen in der Regel mit einem Finger weniger gefunden werden, indiziert digitalen Witz im analogen Verfahren.
Regisseur und Produzent F. J. Ossang gehört zu den eigenständigeren Figuren des französischen Kinos. Der Filmabspann verortet seine ästhetischen Wurzeln mit punkigen Klängen in einer ebenfalls vergangenen Zeit. Und die Danksagungen im gleichen Abspann umfassen unter vielen anderen auch Marie-Pierre Duhamel und ihren zeitweiligen Partner und vormaligen Locarno-Direktor Marco Müller.
Kein Zweifel: 9 doigts kommt nicht aus dem Nichts, seine filmischen und philosophischen Ausprägungen sind von krakenhafter Griffigkeit – und Unfassbarkeit. Man kann sich diesem Strom der Bilder, Sentenzen und Sequenzen überlassen, driftend im (H)Albtraum zwischen hardboiled und no-core, genüsslich und delirierend.
Oder man klinkt sich aus und überlässt den eindrücklich verschwurbelten Trip jenen, die das Surfen ohne Schwindel beherrschen.