SMALL THINGS LIKE THESE von Tim Mielants (Berlinale 2024, Wettbewerb)

Cillian Murphy als Bill Furlong © Shane O’Connor / Berlinale zvg

Der Eröffnungsfilm der 74. Berlinale soll durchaus als Kommentar zur Gegenwart verstanden werden. «Peaky Blinders»-Star Cillian Murphy hat mit Matt Damon und Ben Affleck zusammen einen Film produziert, der sich anschleicht und festbeisst.

Zivilcourage. Nicht wegschauen, auch wenn die ganze irische Kleinstadt so tut, als ob niemand wüsste, was hinter den Mauern des Nonnen-Klosters vor sich geht.

Die Kirche ist mächtig in diesem Irland von 1985, und die barmherzigen Magdalenen-Schwestern nehmen jene unverheiratet schwangeren Mädchen auf, die sonst niemand will.

Aber Bill Furlong, der mit seinem kleinen Laster Kohle, Gas und Briketts für die Heizungen ausliefert, in der Kälte vor den Weihnachtstagen, dem kommen die Tränen.

Er beobachtet eine Mutter, die ihre heulende, sich verzweifelt wehrende Tochter an der Klosterpforte abliefert. Er denkt an seine eigenen fünf Töchter. Und an seine Mutter, deren Namen er trägt, weil niemand seinen Vater kannte.

Cillian Murphy, den knallharten Bandenchef der «Peaky Blinders»-Serie, mit Tränen in den Augen zu sehen, das erinnert daran, wie wandelbar der 48jährige Ire geblieben ist.

Zusammen mit seinen us-amerikanischen Kollegen Matt Damon und Ben Affleck hat Murphy «Small Things Like These» produziert, nach dem gleichnamigen Roman von Claire Keegan aus dem Jahr 2020.

Keegan, vor allem bekannt für ihre präzisen, kunstvoll gebauten Kurzgeschichten, gibt den Ton vor, die alltäglichen «kleinen Dinge», die sich für den emphatischen, warmherzigen Bill zunehmend hinter den Fassaden der Menschen und der Institutionen auftürmen.

Tim Mielants mit Cillian Murphy auf dem Set

Der belgische Regisseur Tim Mielants, der mit Murphy die «Peaky Blinders»-Staffel von 2016 realisiert hat, baut den Film (Drehbuch: Enda Walsh, der auch Steve McQueens Hunger von 2008 mitgeschrieben hat) ganz auf Cillian Murphys Bill.

Die Kamera ist fast immer bei ihm, zeigt ihn als ruhigen Schaffer, der sich die schweren Kohlensäcke auf die Schultern wirft, seine Angestellten freundlich und umsichtig behandelt und bezahlt, und auch zuhause mit der Frau und den fünf Töchtern stets ruhig und liebevoll im Familientrubel sitzt.

Bill hat ein abendliches Ritual, das der Film beiläufig einführt und steigert: Wenn er nach Hause kommt, füllt er im kleinen Badezimmer das Waschbecken und schrubbt sich sorgfältig und ausgiebig den Kohlenstaub von den Händen, mit Seife und Bürste. Die Armbanduhr legt er dazu ab, den Ehering behält er am Finger.

Dass der Film hin und wieder zwischen Bills Gegenwart und den Erinnerungen an seine Kindheit hin und herspringt, merkt das Publikum erst nach einer Weile. Was verblüffend schlüssig ist, weil diese Erinnerungen ja Bills Gegenwart und seine wachsenden Konflikte damit erklären.

Dass sich ein Verbrechen abzuzeichnen beginnt, eines der langjährigsten  innerhalb der irischen Gesellschaft, zeigt Bills zunehmend gesteigerte Intensität beim Händewaschen. Für ihn ist Wegschauen keine Option.

Und unsere Rolle als Zuschauerinnen und Zuschauer in einer etwas forcierten Einstellung, die sich wiederholt: Die Kamera sitzt fix über den Kohlesäcken auf Bills gelbem Lastwagen, hinter der Fahrerkabine.

Wenn Bill ausfährt, fahren wir mit. Als Zuladung.

Oder als blinde Passagiere, deren Blindheit laufend abnehmen wird.

 

 

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