STERBEN von Matthias Glasner (Berlinale 2024, Wettbewerb)

Lars Eidinger © Jakub Bejnarowicz / Port au Prince, Schwarzweiss, Senator

Die Familie heisst Lunies. Nicht Loonies. Aber die Homophonie ist sicher kein Zufall. Matthias Glasner hat seinen 183 Minuten langen Film den Mitgliedern seiner eigenen Familie gewidmet. Den Lebenden und den Toten.

Die einzelnen Kapitel dieser tragikomischen Groteske nehmen unterschiedliche Perspektiven auf. Zu Beginn sitzt Lissy (die einmal mehr grossartige Corinna Harfouch) wörtlich in der Scheisse. Ihr dementer Mann Gerd hat die Wohnung mal wieder ohne Hose und Unterhose verlassen und weil Lissy selbst krank ist, kann sie kaum mehr aufstehen vom verkackten Teppich.

Corinna Harfouch © Jakub Bejnarowicz / Port au Prince, Schwarzweiss, Senator

Nein, das ist nicht lustig. Sterben ist keine Komödie. Diese ersten Szenen des Films fahren ziemlich ein, unter anderem darum, weil Glasner und seine Darstellerinnen den komischen Aspekten nicht ausweichen.

Dass Lissy mit ihren verdreckten Händen einen Anruf von ihrem Sohn Tom (Lars Eidinger) entgegennehmen muss, weil dieser auf ihren Hilferuf endlich zurückruft, das ist scheusslich. Aber Corinna Harfouchs Blick auf das Telefon, als sie es an der Nase vorbei ans Ohr führen muss, der ist auch irgendwie hinreissend.

Der Sohn hat eigentlich gar keine Zeit für die Not seiner Mutter, das hört sie schnell, als er erklärt, er habe eben ein Kind zur Welt gebracht. Und so fragt sie ihn denn pflichtschuldigst, ob es Mutter und Kind gut gehe, ob er und Liv denn wieder zusammen seien und ob sie den Vater des Kindes weiterhin nicht ausstehen könne.

Corina Harfouch, Lars Eidinger © Jakub Bejnarowicz / Port au Prince, Schwarzweiss, Senator

Mutter und Sohn können es nicht so miteinander am Telefon. Sie können es überhaupt nicht so miteinander, wie wir später erfahren. In einer der absurdesten Konfessionsszenen, die das deutsche Kino je hervorgebracht hat, am Esstisch in der Wohnung der Eltern bei Kaffee und Kuchen, als Tom eben die Waldverstreuung der Asche seines Vaters verpasst hat, weil das Elektroauto, das er am Bahnhof gemietet hatte ladungsmässig die Strecke über Land nicht verkraftet hat.

Aber davor hat er seinen Vater schon im Heim besucht, nachdem die Mutter an einem Herzinfarkt fast gestorben war. Und wir haben im zweiten Kapitel des Films die Ereignisse aus dem ersten Kapitel aus seiner Perspektive noch einmal erlebt.

Ronald Zehrfeld, Lilith Stangenberg, Lars Eidinger, Anna Bederke © Jakub Bejnarowicz / Port au Prince, Schwarzweiss, Senator

Tom ist Dirigent, er arbeitet in Berlin an der Uraufführung der Komposition seines besten Freundes. Das Stück heisst «Sterben» und es muss, in den Worten des Komponisten, den «schmalen Grat» erreichen, die Linie, die jenen Kitsch, der das Publikum erreicht, von jener Kunstkomposition trennt, die ausser dem Künstler niemand versteht.

«Der schmale Grat» ist auch ein Kapitel des Films Sterben.

Und wir dürfen konstatieren: Der Film erreicht ihn in einigen glorreichen Momenten, weil er konstant wie ein flüchtender Hase über ihn hinwegspringt.

Ronald Zehrfeld, Lilith Stangenberg © Jakub Bejnarowicz / Port au Prince, Schwarzweiss, Senator

Toms jüngere Schwester Ellen (Lilith Stangenberg) ist eine attraktive Alkoholikerin, die zu Beginn ihres Kapitels verkatert in einem anderen Land aufwacht und es dann doch noch rechtzeitig in die Zahnarztpraxis schafft, in der sie als Assistentin arbeitet.

Ihrem Zahnarzt-Lover (Ronald Zehrfeld) erklärt sie, sie habe einen Beruf gewollt, den alle hassen, um das Gegenteil des Wow-Effekts zu erreichen, den ihr Dirigentenbruder stets auslöse.

In dieser fragmentierten Nacherzählung könnte das alles auch eine Klamotte sein. Aber Glasners Film hat den grossen Atem und den Kunstwillen, der ihn zu etwas Bleibendem macht.

Allein schon die Probenszenen für das Stück «Sterben» mit Orchester und Kinderchor, samt neurotisch selbstverzweifelndem Komponisten sorgen dafür, dass sich der Film nie so ernst nimmt, dass das Publikum darauf verzichten könnte.

Nach drei Stunden und drei Minuten entlässt uns Sterben erschöpft und auf vertraute Weise befriedigt. Denn vieles, von dem was da auf uns eingeprasselt ist, kennen wir. Und bei etlichem davon sind wir froh, es nicht in dieser Heftigkeit zu kennen.

Ein deutscher Film, der den «schmalen Grat» nicht nur zu benennen weiss, sondern ihn auch meistert. Das ist mehr als der «Furz ins Gesicht der Avantgarde» als den ein Kritiker-Geck die Komposition «Sterben» nach ihrer definitiven, postumen Uraufführung bezeichnet.

Lilith Stangenberg © Jakub Bejnarowicz / Port au Prince, Schwarzweiss, Senator

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