SFT10: LA GUERRE EST FINI von Mitko Panov

Ein Kriegsfilm ohne Krieg, ein Flüchtlingsfilm ohne Flüchtlinge: Mit La guerre est fini schafft der in der Schweiz lebende Mazedonier Mitko Panov etwas, das bisher noch kaum ein Spielfilm in der Schweiz geleistet hat: Er bringt uns die Menschen näher, die täglich unter uns sind, deren Schicksal wir allenfalls erahnen, aber nicht wirklich erfassen. Dabei arbeiten Panov und sein grossartiger Kameramann Piotr Jaxa fast klassisch. Da wird einerseits die Vorkriegsidylle in Serbien in warmen Farben gezeigt, das Leben eines Lehrers und seiner Familie, immer unter Einbezug der drohenden Kriegsgefahr und zunehmend der ethnischen Spannungen zwischen Serben und Albanern. Gleichzeitig wird auch schon bald der jüngere Bruder eingeführt, der in der Schweiz eine Bau- und Abbruchfirma aufgebaut hat, in der er vornehmlich eigene Landsleute schwarz arbeiten lässt. „SFT10: LA GUERRE EST FINI von Mitko Panov“ weiterlesen

SFT10: COEUR ANIMAL von Séverine Cornamusaz

Antonio Buil, Olivier Rabourdin in 'Coeur animal'

Paul ist nicht wirklich ein Mann. Wenn überhaupt, dann ist der Bergbauer das Produkt einer rohen Dressur, einer nicht erlebten Erziehung, oder, eher noch, der nachwirkende Versuch einer Filmemacherin, eine Abstraktion zum Leben zu erwecken, einen künstlichen Archetypus. Er mag ein tierisches Herz haben, dieser Bergbauer, ein Herz voller Wut und Angst. Auf jeden Fall behandelt er sein Vieh mit mehr Zuneigung und Verständnis als seine Frau, ist wortloser Patron und Rassist gegenüber seinem spanischen Wanderknecht. Selbst als die Frau, von der er denkt, sie sei schwanger, zusammenbricht, weigert er sich, einen Arzt holen zu lassen. Und als sie schliesslich doch im Spital landet, weigert er sich lange, sie zu besuchen. Coeur animal ist in der Tat ein Gewaltsfilm, ein Erlebnis, das nachhängt. Die Aufnahmen von Tieren, Bergen, Steinen, Käsen und knapp menschlich wirkenden Figuren hängen einem an und nach. Und wenn sich andeutungsweise herausstellt, dass Paul ohne Mutter, nur mit einem Vater aufgewachsen ist, den man sich wohl vorstellen muss wie ihn selber, dann geht man sogar halbwegs mit auf dem relativ abrupten Weg zur Menschwerdung, den der Spanier und der plötzliche Verlust der Frau in ihm auslösen. Damit geht man aber eher sich selber auf den Leim, denn die Spuren, die der Film auslegt, entsprechen nicht dem Weg, den er nimmt. „SFT10: COEUR ANIMAL von Séverine Cornamusaz“ weiterlesen

SFT10: Bideau macht den Longchamp

Wie findet man bloss raus, was das vertrackte Volk denn eigentlich will? Nachdem Claude Longchamp vor der Minarett-Initiative versagt hat, hat Nicolas Bideau, Chef der Sektion Film im Bundesamt für Kultur, eine neue Methode gefunden: Er fragt selber. Oder so rapportiert Kollege Christian Jungen in der heutigen NZZ am Sonntag. Er stellte Bideau eine klare Frage und bekam eine schlüssige Antwort:

Muss ein Film bieder sein, damit er vom Bund unterstützt wird?

Dieser Vorwurf hat mich veranlasst, ins Kino zu gehen und eine Zuschauerin zu fragen, ob sie «Champions» bieder gefunden habe. Sie hätten ihr Gesicht sehen sollen: Sie fasste das als Beleidigung auf. Man darf bei der Beurteilung der Filme nicht zu elitär sein. Aber zugegeben, unsere grossen Spielfilme müssen besser werden.

Genau so geht das. Ich gehe in ein Pornokino und frage die Klientel dort, ob sie den laufenden Film nicht ein wenig anstössig finde.

SFT10: NILOU

Nilou von Amir Hamz

Während bei den langen Filmen in Solothurn (nicht überraschend) dieses Jahr wenig Stricke zerrissen werden, blitzen im Kurzfilmprogramm immer wieder kleine Feuerwerkskörper auf. Das mag ein Indiz dafür sein, dass der Nachwuchs noch mehr Verve und Mut hat. Oder auch einfach dafür, dass mit steigendem Budget die Risikobereitschaft sinken muss. Eine wirklich hübsche kleine Dampfpfeife von Kurzfilm habe ich heute gesehen: Nilou von Amir Hamz. Der 24 Minuten lange Film ist zwar ein klassisches one trick pony, ein Film, der auf eine einzige Pointe aufsetzt, dies aber sehr charmant und dazu mit Implikationen, die dann doch das Feld wieder öffnen. Im Zentrum steht eine junge Iranerin, welche keine Lust hat, sich einfach verheiraten zu lassen, dafür aber schon lange von der Schweiz träumt. Als ihr ein seltsamer Strassenhändler einen Schweizer Sprachkurs verkauft, greift sie zu und fängt an zu büffeln. Ihre Grossmutter schenkt ihr schliesslich das Geld für die Reise in die Schweiz und mit ihren fleissig erworbenen Sprachkenntnissen fliegt sie nach Zürich, fragt nach Zimmer und Zürisee. Bloss versteht sie kein Mensch in Zürich. „SFT10: NILOU“ weiterlesen

SFT10: Der Ruf vom Berg der Wahrheit

Marcel Hoehn, Thierry Spicher, Alberto Chollet, Adrian Marthaler (v.l.)
Marcel Hoehn, Thierry Spicher, Alberto Chollet, Adrian Marthaler (v.l.)

Heute durften wir im Solothurner Stadttheater einer Veranstaltung beiwohnen, die zunächst bloss leicht skurrile Züge aufwies, gegen ihr Ende aber vollständig in die Groteske abrutschte. Vier Branchenvertreter und ein Kommunikationsguru versuchten, die interessierten Teile der Medien und der Filmbranche über die Resultate eines Workshops zu informieren, welcher im August letzten Jahres auf dem traditionell bewusstseinserweiternden Monte Verità im Tessin durchgeführt worden war – auf Einladung der SRG SSR idée suisse. Die Frage, welche rund 50 eingeladene Branchenvertreterinnen und Branchenvertreter angehen sollten, war so einfach wie komplex: „Was müssen wir gemeinsam tun, um dem Schweizer Film eine erfolgreiche Zukunft zu geben?“ – Déjà vue? Genau: 1992 1994 (hey, ich bin jünger als ich mich fühlte letzte Woche!) rief die damalige Chefin der Sektion Film im Bundesamt für Kultur, Yvonne Lenzlinger, die Branche nach Locarno, zu den „Assisen des Schweizer Films“. Unter der Leitung von Lenzlingers baldigem Nachfolger im Amt, Marc Wehrlin, stellte sich die Filmbranche mehr oder weniger basisdemokratisch die Frage: „Was müssen wir … ?“

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SFT10: ZWERGE SPRENGEN

'Zwerge sprengen' von Christof Schertenleib © Filmcoopi

Zur gestrigen Eröffnung der Solothurner Filmtage war Christof Schertenleibs Zwerge sprengen fast der ideale Film. Die Geschichte zweier Pfarrerssöhne (Michael Neuenschwander und Max Gertsch) aus dem Emmental, ihrem jährlichen Familienritual und der familiären Tendenz, Negatives unter dem Deckel zu halten, lässt sich leicht als Parabel auf den langjährigen Zustand der politischen Schweiz lesen. Zumindest bis zu jenem Zeitpunkt, als die SVP begann, die Konkordanz in Frage zu stellen. Das zentrale Bild des Films, das ritualisierte Sprengen von Gartenzwergen, ist eines, das hängen bleibt. Die Figuren der beiden Brüder mit ihren Ehe- und Beziehungsproblemen sind durchaus aktuelle Schweizer. Die Umgebung allerdings, das Dorf im Emmental, das Pfarrhaus, die grünen Hügel, das alles erinnert dann doch wieder an den „alten“ Schweizerfilm, den das nostalgische Unterhaltungskino wie Die Herbstzeitlosen so erfolgreich beschwört. „SFT10: ZWERGE SPRENGEN“ weiterlesen

SFT10: Seismographische Brötchen

Solothurn Altstadt Jan 2010

Unter diesen Dächern der Solothurner Altstadt frühstückt die halbe Schweizer Filmszene, und diskutiert die gestrigen Eröffnungsansprachen von Filmtagedirektor Ivo Kummer und Bundespräsidentin Doris Leuthard. Mehr Mut und Lebensfreude wollten beide von den Filmern sehen. Kummer erklärte den Bideau-Couchepin-Schlachtruf von „popularité et qualité“ für gescheitert. Doris Leuthard forderte die Filmerinnen und Filmer auf, ihre Funktion als Seismographen der Gesellschaft wahrzunehmen. Allerdings fand sie dann gleich eine neue deutschsprachige Variation auf das eben verabschiedete „Popularität und Qualität“, mit der Behauptung: „Kunst allein ist brotlos, Kommerz allein ist trostlos“. Ja was denn jetzt? Kleine seismographische Brötchen backen, meine Damen und Herren!

Filmpodcast Nr. 165: A Serious Man, Der grosse Kater, Im Sog der Nacht, Federico Fellini, Niki Reiser.

Hiob als Physiker: Michael Stuhlbarg ist 'A Serious Man' ©Ascot-Elite
Hiob als Physiker: Michael Stuhlbarg ist 'A Serious Man' ©Ascot-Elite

KiK – Kino im Kopf. Diese Woche mit Brigitte Häring: der neue Film der Coen-Brüder A Serious Man, Der Schweizer Bundesratsfilm Der grosse Kater und den DVD-Tipp zum Film Im Sog der Nacht. Ausserdem feiern wir post mortem Federico Fellinis 90. Geburtstag. Und der Ehrengast der diesjährigen Solothurner Filmtage, Niki Reiser, war zu Gast in der Sendung Reflexe. Dazu wie gewohnt die Tonspur und unsere 5er-Liste.

Saugen: Filmpodcast Nr. 165

Hören: [audio:http://pod.drs.ch/mp3/film/film_201001220815_10118560.mp3]


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SFT10: Mehr Filme für weniger Journalisten

WoZ 100121 Filmjournalismus

Heute beginnen in Solothurn die 45. Filmtage. Aber während die meisten Medien pflichtgemäss die Anzahl eingereichter Filme, der ausgewählten Minuten, den Zustand der Schweizer Filmlandschaft und allenfalls die Bilanz der Bundesfilmförderung rapportieren, greift die WoZ schon mal eine Woche vor und nimmt das vom Verband der Filmjournalistinnen und Filmjournalisten am kommenden Mittwoch veranstaltete Panel zum Anlass für einen Blick in die erodierende Landschaft des Filmjournalismus in der Schweiz:

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Die Unverpassbaren, Woche 4

Religionsphilosophie mit Joel (2vl) und Ethan (4vl) Coen: 'A Serious Man' ©Ascot-Elite
Religionsphilosophie mit Joel (2vl) & Ethan (4vl) Coen: 'A Serious Man' ©Ascot-Elite

Wie jeden Donnerstag beim Rollenwechsel im Deutschschweizer Kino gilt: Erst diese fünf Filme sehen, dann alle anderen.

  1. A Serious Man von Joel und Ethan Coen. Die tiefgefühlte, todtraurige und sterbenslustige Tragikomödie der filmwütigen jüdischen Agnostiker aus Minnesota.
  2. Un prophète von Jacques Audiard. Das Gefängnis als Akademie des organisierten Verbrechens – jetzt hat auch Frankreichs Kino seinen Godfather. Und das Genrekino hat einen Weg in die Zukunft gefunden.
  3. Bright Star von Jane Campion. Die meisterhaft unromantisch erfasste Liebe einer modernen jungen Frau zum todgeweihten Romantiker John Keats. Jane Campion kann das.
  4. Cinco días sin Nora von Mariana Chenillo. Die Liebesgeschichte eines längst geschiedenen Paares, ein mexikanischer Erstling mit leiser, komischer Haftkraft.
  5. Avatar von James Cameron. Die Geschichte, die er erzählt, ist zwar ziemlich von gestern. Aber die Bilder, die sind von Übermorgen.