Animationsfilmer Ernest ‚Nag‘ Ansorge ist gestorben

Nag Ansorge © GSFA Jean Mayerat
Nag Ansorge © GSFA Jean Mayerat

von Rolf Bächler

Ernest, genannt Nag Ansorge ist am Stephanstag, dem 26. Dezember, zwei Monate vor seinem 89. Geburtstag in Lausanne verstorben.

Nag Ansorge, der Doyen des Schweizer Animationsfilms, hat den langen Film seines Lebens vollendet. Er hinterlässt uns ein umfangreiches, im Wesentlichen in symbiotischer Komplizenschaft mit seiner schon 1993 verschiedenen Frau Gisèle erschaffenes Werk von unglaublicher Vielfalt.

Zu Animationskünstlern von Weltrang wurde das Paar mit zehn kurzen, mit Quarzsand animierten Filmen, die im Zeitraum eines Vierteljahrhunderts entstanden und zusammen gerade mal eine Stunde dauern. Der Öffentlichkeit weniger bekannt, in Fachkreisen jedoch ebenso hoch geschätzt sind die Resultate von Nags langjähriger Arbeit mit Langzeit-Psychiatriepatienten, die er ab den frühen 60er-Jahren während zweier Jahrzehnte zu eigenen filmischen Experimenten anleitete. Dazu kommt ein umfangreiches Konvolut an Auftragsarbeiten – Reportagen, Lehrfilme, Dokumentationen, usw., darunter einige viel beachtete, einfühlsame Portraits psychiatrisierter KünstlerInnen, aber auch Mitarbeit an Fernsehserien für Kinder – sowie ein Langspielfilm, alles weitgehend ebenfalls in (mit Nags Worten: osmotischer) Zusammenarbeit mit Gisèle entstanden.

Das Filmen entdeckte das in Naturwissenschaften promovierte Paar (sie Apothekerin, er Maschineningenieur) in den 50er-Jahren über Nags Faszination für jegliche Motoren und Getriebe: eine 8mm-Kamera, mit welcher er in der Freizeit zu hantieren begann, während er sich beruflich bei Escher-Wyss in Zürich mit Turbinen befasste. Die Begegnung mit Werken des tschechischen Altmeisters Jiri Trnka offenbarte ihnen das Universum der Animation, und bald folgten erste eigene Gehversuche mit animierten Puppen im zum Studio umfunktionierten Esszimmer ihrer Wohnung.

Schon ihrem zweiten Wurf war in Amateurkreisen einiger Erfolg beschieden, was sie 1958 bewog, Filmschaffende zu werden und sich dafür in einem kleinen Haus in Étagnières bei Lausanne einzurichten. Entgegen ihren Erwartungen blieb ihrem nächsten, mit professionellen Ambitionen realisierten Puppenfilm eine kommerzielle Auswertung jedoch versagt, und in Fachkreisen fand zwar ihre Arbeit Anerkennung, weniger aber das Werk selbst. Der Realität gehorchend legten sie Puppen und persönliche Projekte fürs erste beiseite. Gisèle nahm ihren Beruf als Apothekerin wieder auf, versuchte sich aber gleichzeitig mit zunehmendem Erfolg als Autorin von Hörspielen, Theaterstücken und Kurzgeschichten, während Nag mit Wochenschau-Beiträgen und technischen Dokumentationen den Einstieg ins weite Feld des Auftragsfilms schaffte.

'Les corbeaux' von Gisèle und Nag Ansorge
‚Les corbeaux‘ von Gisèle und Nag Ansorge

Diese filmische Brotarbeit bot indes beiden immer wieder Gelegenheit, ihre Vorliebe für Animation auch weiterhin auszuleben und mit allen erdenklichen Techniken experimentieren. Ihr verdankten sie auch die Entdeckung des Materials ihrer Bestimmung: Bei einem Auftragsfilm zum Thema Herzfehler kamen sie auf die Idee, für die Animation des zirkulierenden Blutes Sand zu verwenden – ein lockeres, leicht manipulierbares Material, mit dem sich mühelos zeichnen und das Resultat kontinuierlich modifizieren lässt. Anlässlich seiner Premiere 1967 in Annecy, nach drei weiteren Jahren des Experimentierens und Forschens, wurde ihr erster ausschliesslich mit Sand gemachter Film, Les Corbeaux, von der Fachwelt wie auch vom Publikum mit Begeisterung aufgenommen.

'Sabbath' von Gisèle und Nag Ansorge
‚Sabbath‘ von Gisèle und Nag Ansorge

Von da an war Sand gewissermassen das Markenzeichen der Ansorge. Als Materie, die keine eigene Gestalt hat, aber jede annehmen kann, war er in Gisèles Händen nicht nur ein grafischer Werkstoff, sondern prägte auch den Erzählstil und sogar die Wahl der Inhalte und wurde so zur Essenz eines ausserordentlichen  Gesamtwerks von seltener Geschlossenheit. Zu den herausragenden Filmen zählen Fantasmatic (1969), Anima (1977) und das letzte gemeinsame Werk, Sabbath (1991).

Nags zweite Leidenschaft, ein ebenfalls mit Gisèle geteiltes, tief empfundenes Interesse am (Mit-)Menschen, schlug sich nicht nur in seinem Filmschaffen nieder, sondern auch in anderen Formen persönlichen Engagements. So war er unter anderem Mitbegründer der Emmaüs-Gemeinde von Étagnières sowie des Dachverbands des Hilfswerks für die Romandie; Ende 70er-Jahre rief er mit Freunden den Verein Films Plans-Fixes ins Leben, um Personen des öffentlichen Lebens durch orale Geschichtsschreibung mit filmischen Mitteln für die Nachwelt zu porträtieren; und während der 90er-Jahre stellte er sein Wissen den Studierenden der Lausanner Kunstschule und deren Filmabteilung zur Verfügung.

Sein für das Schweizer Animationsfilmschaffen insgesamt wichtigstes und nachhaltigstes Engagement, bedeutender noch als das mit Gisèle geschaffene, weltweit ausgezeichnete Werk, war indessen die Beteiligung an der Gründung der Schweizer Trickfilmgruppe Ende der 60er-Jahre, des einzigen Fachverbandes für Animation in der Schweiz, dessen Geschicke er fast ein Vierteljahrhundert als Sekretär und später Präsident leitete. In dieser Zeit diente er auch als Experte für die Filmförderung des Bundes, wo es ihm gelang, die zuständigen Stellen für die spezifischen Besonderheiten der Animation zu sensibilisieren und so die Grundlagen für deren Produktion nachhaltig zu verändern. Darüber hinaus inspirierte er mit seiner Offenheit, seiner unermesslichen Geduld und seiner sanften Beharrlichkeit die nachfolgenden Generationen von Animationsfilmschaffenden und vermochte in ihnen das Vertrauen zu erwecken, dass es möglich war, in diesem Metier in Ehren sein Leben zu bestreiten.

Gisèle und Nag Ansorge am Schneidetisch © Cinémathèque Suisse
Gisèle und Nag Ansorge am Schneidetisch © Cinémathèque Suisse

Luc Plantier und Michel Froidevaux haben ein Buch über die Ansorge verfasst, „Pris dans les sables mouvants – Captured In Drifting Sand“, herausgegeben von der Edition Centre International du Cinema d’Animation, Annecy 1995, auf Englisch und Französisch, aus Anlass einer Retrospektive zum Gedenken an Gisèle nach ihrem Tod 1993 (ISBN 2-908079-05-4).

Nag hat ihr (Sand-)animiertes Werk selbst auf einer Doppel-DVD gleichen Titels herausgegeben, zusammen mit der Association Films Plans-Fixes („Gisèle & Nag Ansorge: Pris dans les sables mouvants“).
Beides ist über die Webseite des GSFA erhältlich.

Cinéportrait Nag Ansorge bei Swissfilms (pdf, französisch)

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