Wenn ich gestern im Blogeintrag zu Lost Town von Jörg Adolph behauptet habe, dass die besten Dokumentarfilme jene seien, welche die Geschichte ihrer Entstehung miterzählen, so ist es nicht mehr als folgerichtig, wenn mich heute eine österreichische Filmemacherin mit ihrem Film daran erinnert hat, dass das gar nicht immer nötig ist: Oceanul mare von Katharina Copony braucht sie gar nicht, diese unterschwelligen Strukturen der Blicklenkung, weil der Film nie behauptet, eine gewonnene Erkenntnis weitergeben zu wollen. So wie Copony drei Protagonisten der chinesischstämmigen Einwandererschaft in Bukarest filmt, ermöglicht sie einen Erkenntnisprozess, der sich mit dem ihren nicht zu decken braucht. Natürlich hat sie mit Dolmetscherinnen gearbeitet (gleich mit zweien, eine für Mandarin und eine für Rumänisch) natürlich stellt sie uns Untertitel zur Verfügung und natürlich hat sie gezielt ausgewählt, welche Erzählungen der Einwanderer sie auf welche Weise montiert und mit ergänzenden Bildern unterlegt. Aber was es für mich dabei zu gewinnen gibt, muss ich schon selber entscheiden.
Es ist eine bescheidene Haltung für einen Film, eine eigentliche Zurückhaltung, ein Angebot, Schlüsse zu ziehen, Fragen zu entwickeln auch. Zunächst aber vor allem der verblüffende Hinweis darauf: Fremde gibt es nicht nur bei uns, sondern auch bei den anderen. Und sie sind dort noch nicht mal fremder als bei uns. Die drei Chinesen, welche Copony uns vorstellt, sind jene drei, die noch am ehesten als Brückenbauer funktionieren. Sie sprechen die Landessprache, einer von ihnen gibt eine Zeitung für seine Landsleute heraus und alle drei geniessen einen Sonderstatus auch unter ihren Landsleuten, von denen viele nur mit ihresgleichen verkehren und geschäften. Die könnten wohl genau so gut in Chinatown von San Francisco leben, oder unter sich in London. Aber all das wird nicht zum „Thema“ des Filmes, Copony macht sich nie anheischig, ein Thema zu definieren, das überlässt sie uns, und verweist damit unaufdringlich auf die kulturelle Prägung, welche ganz klar nicht bei jedem Publikum die gleiche sein kann.
Es wäre idiotisch zu behaupten, Oceanul mare (mitproduziert übrigens von der Berlinale Preisträgerin Maren Ade) hätte keine Dramaturgie, keine Strategie, keine Blicklenkung. Schliesslich ist das ein eindrücklicher, wirkungsvoller, wirklich erfreulich guter Dokumentarfilm, keine Reihe absichtslos gefilmter Sequenzen. Aber der Film ist „offen“. Jemand mit Neugierde hat Erkenntnisse gesucht und Einsichten, und die wohl auch gefunden. Beim Betrachten des Filmes können wir zu den gleichen kommen, oder zu ganz anderen, und das ist eben auch eine dokumentarische Haltung. Es ist sogar die eigentliche, nie ganz zu erreichende, aber im Idealfall anzustrebenden dokumentarische Haltung. Und erst die Einsicht, dass sie nicht wirklich völlig zu erreichen ist, dass jeder Film eine Manipulation aus Suggestion und Weglassung darstellt, führt dann zur zweitbesten Strategie, jener nämlich, die Manipulation erkennbar zu gestalten. Mit Oceanul mare aber kommt Katharina Copony dem anthropologischen Ideal der neutralen Aufzeichnung erstaunlich nahe. Eine schöne Erkenntnis hier in Duisburg am Tag, an dem der Tod des 101jährigen Claude Lévi-Strauss bekannt wurde. Oi. Jetzt romantisiere ich schon wieder…