Ist ein Pädophiler schuldig, weil er ist? Gibt es auch ausserhalb des religiösen Kontextes verbotene Phantasien? Sebastian Meises gossartiger Film spielt diese Fragen überaus simpel und realistisch durch. Der erwachsene Bernhard beobachtet zufällig seinen Vater bei einem Dirnenbesuch, sieht, wie er ihr einen Zettel mit Instruktionen zusteckt, und nimmt diesen später der Frau ab. Dass der eigene Vater Phantasien haben könnte, ist für jeden Sohn, jede Tochter ein ungeliebter Gedanke. Wenn sich aber herausstellt, dass es sich um pädophile Phantasien handelt, und dass der Vater die Prostituierte im Rollenspiel beim Namen der Schwester nennt, dann beginnt unweigerlich auch die Gedankenmühle des Sohnes zu mahlen. Nun läuft das Familiendrama ab wie wie bei Vinterbergs Festen. Mit dem grossen Unterschied, dass nicht eine eindeutige heimliche Schuld ans Tageslicht gezerrt, eine Familienlüge aufgedeckt wird, sondern sich Abgründe auftun, wo vorher stabile Verhältnisse herrschten.
Wie bei Michael von Markus Schleinzer steht auch bei diesem Erstling Übervater Haneke im Hintergrund. Und wie Schleinzer beweist auch Meise, dass er einen absolut eigenständigen, extrem eindringlichen Blick entwickelt hat.
Das Spielfilmprojekt geht zurück auf das Berliner Programm Kein Täter werden, ein präventives Hilfsprogramm, das pädophil veranlagten Menschen helfen will, ihre Neigungen im Griff zu halten. Co-Autor Thomas Reider und Sebastian Meise haben im Verlauf der Recherchen mit etlichen Betroffenen gesprochen und schliesslich parallel zum Spielfilm den Dokumentarfilm Outing gemacht, in dem ein Pädophiler sich und seine Bemühungen outet (und auf den ich hoffentlich morgen noch eingehen kann hier ausführlicher eingehe).
Das Grossartige an Stillleben ist die Unerschrockenheit, mit der er die Frage nach Schuld im familiären Kontext einbettet. Wie im klassischen Drama (und bei Bergman oder Haneke natürlich), gibt es keine isolierte Schuld, braucht es keine konkrete Tat, um das fragile Gefüge menschlicher Beziehungen zu zerstören. Wenn der Sohn zunächst ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass der von ihm bisher verehrte Vater die Schwester als Kind missbraucht habe, wird für diese wiederum schlagartig klar, warum der Vater sie ihr Leben lang ostentativ ignoriert hat. Und für die Mutter kommt der eigene moralische Bruch, als sie ihren Mann mit dem Jagdgewehr unter dem Arm das Haus verlassen sieht, ohne ihn mit einem Wort zurückzuhalten.
Aber nicht nur beim Familienverstricken zeigt sich der Film unerbittlich genau, auch in den Erinnerungsdetails schlägt Meise Saiten an, die im Publikum nachklingen. Seien es abgegriffene Kinderfotos vom Urlaub am Meer in der Blechkiste im Schrank in der Werkstatt des Vaters, eine Audiokassette mit dem Sommerhit „Voyage voyage“ von Desireless aus dem Jahr 1987 oder die Poster im ehemaligen Zimmer der Schwester, die irgendwie gefroren in der Zeit an den Wänden hängen. Und schliesslich, ein wahrer Geniestreich, die brüchig und über glasklarem Piano deutsch akzentuierte neue Version von „Voyage voyage“ über dem Abspann, gesungen von der Darstellerin der Schwester, Anja Plaschg, alias Soap&Skin.
Stillleben steht in der besten Tradition des zeitgenössischen österreichischen Kinos, zwischen dokumentarischem Zugriff und dramatischer Reduktion. Ein wirklich beeindruckernder Film.