Das ist zwar der erste Spielfilm des Brasilianers Gabriel Mascaro, aber er versteckt in keiner Sekunde, dass er vom Dokumentarfilm kommt. Mit früheren Arbeiten war er auch schon zu den Visions du réel in Nyon eingeladen worden.
Die erste Einstellung kommt von einer Kamera, welche fix auf einem Boot montiert ist, das an Mangroven vorbei aufs offene Meer fährt. Dann sieht man einen Mann mit Speer tauchen und schliesslich, aus einer ähnlich starren Perspektive, die attraktive Shirley im Bikini auf dem Boot an der Sonne. Sie holt eine Dose Cola hervor und reibt sich den Körper damit ein, als ob es Sonnencrème wäre.
Zur irritierenden und schamlosen Perspektive gesellt sich also gleich auch noch die Irritation über das, was die Figur da eigentlich macht. Hilft Cola kühlen? Sonnenbrand muss sie mit ihrer dunklen Haut eher nicht fürchten. Oder zuckert sie sich für den tauchenden Mann?
Von der ersten Einstellung an also funktioniert Ventos de Agosto dokumentarisch, er zeigt sachlich oder pseudo-sachlich, was ist, was passiert, und setzt so unsere eigene Spekulation in Gang. Ethnographisch präzise werden wir im weiteren Verlauf sehen, wie Kokosnüsse geerntet und transportiert werden, wie Shirley Traktoren fährt und repariert, und auf der Kokosnussladung im Anhänger Sex hat mit Jeison.
Als der allerdings nicht einwilligen will, sich von ihr tätowieren zu lassen, schimpft sie ihn einen Feigling. Denn er fürchtet, sein Vater könnte ihn aus der Hütte werfen, wenn er mit einem Tattoo heimkomme. Und ausserdem ist sei so ein Tattoo für immer.
Zwischen Meer und Kokoswald, am Fluss und hinter den Hügeln fern von der Stadt vergehen die Tage. Shirley kümmert sich um ihre gebrechliche Grossmutter, nicht freiwillig, sondern auf Geheiss ihrer Mutter, wie wir erfahren. Und sie probiert ihre Tätowierkünste an einem quiekenden Schwein aus, weil Jeison offensichtlich nicht Manns genug ist.
Derweil wird Jeison von seinem ebenfalls kranken Vater dauernd zurechtgewiesen. Bis er beim Tauchen zuerst auf einen Schädel stösst, und später auf eine komplette, aufgedunsene Leiche. Um beide kümmert er sich mit Hingabe und gegen den Willen der anderen Dorfbewohner.
Sozusagen als Zwischenakt taucht dann auch noch ein Windforscher auf, der die Tropenwinde akustisch aufnimmt, die Auguststürme, und dabei ebenfalls mehr oder weniger ethnographisch durch die kleine Dorfgemeinschaft stolpert, Kinder aufnimmt und Musik, die aus Häusern dringt.
Ventos de Agosto ist eine skurrile Verquickung des klassischen ethnographischen Duktus mit meist nur angedeuteten Beziehungs- und Machtbezügen zwischen den Figuren, häufig eben so komisch wie berührend, und letztlich von einem fein gewebten Symbolbezugsnetz durchzogen, das sich erst nachträglich einigermassen erschliesst: Autorität und Liebe, Meer und Tod, Vergänglichkeit und Gezeiten wie auch Wetter rupfen nicht nur an diesem Stück brasilianischer Küstenlandschaft, sondern auch an den Menschen. An jenen, die einfach da sind eben so wie an jenen, die gerne woanders wären.
Ein überaus feingesponnener Film, der Sex und Tod, Wind und Hoffnung, Ethnographie und Fiktionalisierung verwebt, als leises, fast flüchtiges Angebot.
(67. Filmfestival Locarno, Concorso internazionale)