Cannes 18: TODOS LO SABEN von Asghar Farhadi (Wettbewerb)

Penélope Cruz, Javier Bardem © frenetic

Ein ausgeklügeltes, durchdachtes, unentrinnbares Familiendrama als Auftakt für dieses Festival, das sich seit mehr als siebzig Jahren als Familientreffen der globalen Cinéphilie gebärdet: Das hat was.

Laura (Penélope Cruz) kommt mit ihrer sechzehnjährigen Tochter und dem deutlich jüngeren Sohn aus Argentinien zu einer Hochzeit zurück in die spanische Kleinstadt, ihr Mann Alejandro (Ricardo Darín) ist aus noch unklaren Gründen nicht dabei.

Bárbara Lennie, Javier Bardem © frenetic

Eine gute halbe Stunde lang lässt Farhadi den Familienreigen auf uns los: Schwestern, Onkel, der mittlerweile gebrechliche Vater, die Mutter, Cousinen und Cousins, der Bräutigam, die Braut, die Freunde und schliesslich auch Paco (Javier Bardem) und seine Frau Bea (Bárbara Lennie).

Über einen plausiblen und wunderbar beiläufigen Umweg erfahren wir und Lauras Tochter bald, dass Paco und Laura einst unzertrennlich waren, Jugendgespielen und schliesslich ein Paar.

Das alles dreht sich von Figur zu Figur, von Beziehung zu Beziehung, in einem wunderbaren, verwirrenden Wirbel, der schliesslich in die Tanzbewegungen der Hochzeit übergeht.

Asghar Farhadi versteht es meisterhaft, über die kurzen Sätze und Dialoge seiner Figuren immer mehr Informationen zu verknüpfen, bis wir ein halbwegs plausibles Bild der komplizierten Familienverhältnisse bekommen.

Dazu nutzt er nicht nur Dialoge, sondern äusserst virtuos Bewegungen der Menschen, von Fahrzeugen, einem Motorrad, dem Uhrwerk und Glockenspiel einer Kirche, Flugaufnahmen der Drohne der Hochzeitsfotografen und Aufnahmen von der fliegenden Drohne – ein schier endloses Spiel konzentrischer Bewegungen.

Bis Laura entdeckt, dass ihre Tochter entführt worden ist.

Penélope Cruz, Ricardo Darín © frenetic

Eine gekappte Stromleitung und ein paar Zeitungsausschnitte zu einem anderen Entführungsfall lassen auf Profis schliessen, Lösegeldforderungen per SMS an Laura und an Pacos Frau Bea setzen einen neuen Reigen in Bewegung.

Nun werden immer mehr Familiengeheimnisse aufgedeckt, Spannungen entladen sich in Verdächtigungen, jeder könnte beteiligt sein: Alle haben es gewusst – Todos lo saben.

Penélope Cruz © frenetic

Schon seine frühen, im Iran gedrehten Festivalerfolge haben Asghar Farhadi als Meister des Drehbuchs ausgewiesen. About Elly oder das Scheidungsdrama Nadar und Simin noch an der Berlinale, vorletztes Jahr dann wieder The Salesman hier in Cannes.

Dazwischen lag 2013, ebenfalls in Cannes, das in Frankreich spielende Scheidungsdrama Le passe mit Bérénice Béjo, bei dem neben der virtuosen Drehbuchkonstruktion erstmals auch eine gewisse Künstlichkeit zu spüren war.

Es war der gleiche Effekt, der nun auch Todos lo saben daran hindert, einen vollkommen in Bann zu schlagen: Die Unentrinnbarkeit des Familiendramas erinnert an eine griechische Tragödie, der Realismus der Inszenierung dagegen ans Melodram. Und was die Schauspielerinnen und Schauspieler zu leisten haben (und es auch tun) übersteigt manchmal den natürlichen Fluss der Gefühle für diese seltsamen Momente der Wahrheit, die sich dauernd in ihr Gegenteil verkehren.

So sind denn die Binnendramen und der grosse Bogen von Todos lo saben durchaus schlüssig und packend. Dazwischen aber tauchen Momente des Begreifens auf und Augenblicke des Erklärens, unter anderem mit einem pensionierten Polizeidetektiv, der eine Art Hércule-Poirot-Rolle zugeschrieben bekommt.

Da gesellt sich denn zum Mitleid und dem mitleiden, der Erkenntnis und der Verblüffung auch das Erkennen der raffinierten Konstruktion, der sorgsam ausgelegten Spuren und der emotionalen Sackgassen. Ein bisschen kommt da der Verdacht auf, wir merken das alles deutlicher, wenn Farhadi in Frankreich oder Spanien dreht. Und weniger bis gar nicht, wenn die für uns exotische Lebenswelt des Iran als Hintergrund dient.

Aber ob Drama oder Melodram: Todos lo saben ist starkes, sattes, grosses Kino. Und mit all den starken spanischsprechenden Darstellerinnen und Darstellern eine packende, unterhaltsame, ausweglose Tragödie zwischen Euripides und Almodóvar.

Als metaphorische Darstellung der globalisierten Filmfamilie von Cannes ist das sicher nicht gemeint. Aber brauchbar.

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