Schweizer Film im Mädchenheim

Wer waren die Männer und Frauen, welche ab Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts die Entwicklung von Film und Filmpolitik in der (deutschen) Schweiz prägten? Welche Seilschaften schufen die Grundlagen für die heutige Filmpolitik?

Zwar gibt es die zweibändige Fortsetzung von Hervé Dumonts Geschichte des Schweizer Films (Dumont 1987; Dumont/Tortajada 2007), Bücher von Martin Schaub, die Arbeiten von Thomas Schärer, und Monographien über prägende Figuren wie Georg «Tschöntsch» Reinhart, aber noch muss man sich die Geschichte des (Deutsch-) Schweizer Films der letzten fünfzig Jahre weitgehend zusammensuchen.

Christian Jungens im Februar erschienene Moritz de Hadeln-Biographie bietet unter anderem auch einen anregenden Blick auf die Schweizer Festival- und Filmpolitik und ihre Umbrüche ab den 1960er Jahren.

Nun ist aber eben ein weiterer schmucker Mosaikstein in dieser Geschichte erschienen. David Streiff, einst Leiter des Filmzentrums (heute Swiss Films), Chef des Filmfestivals von Locarno und schliesslich langjähriger Direktor des Bundesamtes für Kultur, hat ein schmales, aber aufschlussreiches Buch über einen der prägenden Filmfreundeskreise der siebziger und achtziger Jahre geschrieben: «Das Mädchenheim im Aathal» (Privatdruck, 2018).

Besagtes «Mädchenheim» ist ein Gebäude auf dem Areal der einstigen Streiff-Spinnereien im Aathal, ein Haus, das nach dem zweiten Weltkrieg vor allem junge «Gastarbeiterinnen» aus Österreich und Italien beherbergte, welche in den Spinnereibetrieben arbeiteten.

Ab Mitte der 1960er Jahre begann sich die Nutzung des Gebäudes zu wandeln. David Streiff schildert, wie zuerst die Künstlerin Margrit Schlumpf-Portmann im zweiten Stock ein Atelier einrichtete und wie dann über ihren Mann, den Filmemacher Hans-Ulrich Schlumpf, ein immer grösserer Freundeskreis aus jungen Filminteressierten auf das Areal aufmerksam wurde.

Eine Miet-Abrechnung des lockeren Kollektivs mit der Spinnerei Streiff AG

Nicht zuletzt dank der Vermittlung von David Streiff zwischen dem Familienunternehmen und seinem Freundeskreis wurde das einstige Mädchenheim nach und nach zu einer mehr oder weniger selbstverwalteten Wohn- und Ateliergemeinschaft. Und der Freundeskreis selbst hatte seine Keimzelle in jenem Teil des «jungen Schweizer Films», der auch den Verein für ein Schweizerisches Filmzentrum gebildet hatte, mit Schlumpf als dessen erstem Geschäftsführer und David Streiff als seinem Nachfolger.

Markus Imhoof vor dem Mädchenheim 1975 © Georg Radanowicz

Zu dem Freundes- und Arbeitskreis gehörten Markus Imhoof, Xavier Koller, Thomas Koerfer und – zentral in mehrfacher Hinsicht – Imhoofs Jugendfreund Georg Reinhart. Eine der Herzfiguren war bald Georg Radanowicz – der dem Gebäude auch am längsten von allen die Treue gehalten hat.

David Streiff schildert sachlich und angenehm trocken, wer wie und über welche Verbindungen dazu stiess, wie grosse und kleine Festessen die wechselnde Gemeinschaft prägten und wie nicht zuletzt Reinhart als Spross der Winterthurer Unternehmerfamilie zum Produzenten und Mäzen wurde.

Nur andeutungsweise schildert der diplomatisch bewanderte David Streiff auch die eine oder andere Rivalität, etwa jene zwischen der Aathaler Gemeinschaft und den Leuten aus dem Zürcher Filmkollektiv.

Auf knapp achtzig reich illustrierten Seiten breitet sich schliesslich ein Panorama des «Filmwunders Schweiz» aus, ein lockeres, angedeutetes Diagramm der Seilschaften und Interessengemeinschaften mit Verbindungen in die Westschweiz, eine lockere kollektive Allianz von Geld und Ausdruckswillen, Lebenslust und Freundschaft.

Gruppenfoto vom grossen Fest 1995, mit Thomas Koerfer (oben links) bis Fredi M. Murer (unten rechts)

Dabei finden sich immer wieder auch verblüffende Verbindungen, etwa in die Kunst- und Verlags-Szene. Oder die ganz selbstverständlichen freundschaftlichen Allianzen zwischen Journalistinnen und Journalisten und Filmemacherinnen, die sich im Rückblick als eindeutige und wohl auch kulturpolitisch nützliche Seilschaften erweisen. Dabei sind vor allem die Gruppen- und Festfotos klar aufschlussreicher als David Streiffs stets diplomatisch diskrete Schilderungen.

«Das Mädchenheim im Aathal» hat David Streiff auf Anregung von Georg Radanowicz verfasst, als Erinnerung für die Freundinnen und Freunde, welche fast fünfzig Jahre lang diesen Ort als Rückzugs-, Freundschafts- und Austausch-Zentrum belebten. Konsequenterweise ist das schön gestaltete Buch auch als Privatdruck in kleiner Auflage herausgekommen – interessant ist es in erster Linie für all jene, die dabei waren.

Aber auch als anregende und aufschlussreiche Zusammenstellung funktioniert der kleine Band, als filmhistorisches Knüpf- und Stopfmaterial. Und als Einblick für interessierte Nachgeborene in eine Zeit, in der vieles erkämpft und erlitten werden wollte, das heute institutionalisiert scheint.

Dass Freundschaft, Gemeinschaft, Aufbruchsstimmung und Lebensfreude zu den stärksten Motoren jener Zeiten gehörten, macht David Streiff unsentimental und dadurch umso stärker überaus deutlich.

Streiff, David: «Das Mädchenheim im Aathal», Eigenverlag, Zürich, März 2018, ISBN 978-3-033-06660-1 – Das Buch ist auf Anfrage erhältlich in ausgesuchten Zürcher Buchhandlungen oder in den Büros der Triluna Film AG in Zürich. Und natürlich direkt über David Streiff oder Georg Radanowicz. Allfällige Anfragen leite ich auch gerne weiter.

 

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