Nyon 10: Jean Perret ist eine Strasse

Rue Saint-Jean, Nyon

Das Städtchen Nyon hat sein weltweit renommiertes Festival nicht immer mit der gleichen Inbrunst gepflegt, die Hotelknappheit besteht weiter, und kein Restaurant erbarmt sich nach 23 Uhr der Nachtwschwärmer, die aus den Festivalkinos kommen. Aber dem scheidenden Festivaldirektor Jean Perret hat die Kommune am Genfersee nun doch in aller Heimlichkeit und ohne Aufsehen zu erregen ein Denkmal gesetzt, entlang dem Hauptplatz. Das war völlig ohne Aufwand und Katasteränderung möglich, brauchte es doch nur eine kleine Bewusstseinsveränderung, um die bestehende Strasse in neue Richtungen verlaufen zu lassen.

Nyon 10: Zum Abschied die Vorgänger

Moritz und Erika De Hadeln in Nyon

Saukalt war es gestern Abend in Nyon, kälter als in den meisten früheren Jahren (auch wenn ich mich sogar an Schneetreiben im April erinnern kann). Aber eine halbe Stunde vor der Festivaleröffnung brachen doch ein paar Sonnenstrahlen durch, und vor der Bar du Réel, der Komplimentierung des Festivalkinos in der salle communale, genoss das Vorgängerehepaar der scheidenden Festivalleitung den Vorfrühling: Moritz de Hadeln, der langjährige Leiter der Berlinale, der seine Karriere in Nyon begonnen hatte, und seine Frau Erika, welche das Festival bis 1994 geleitet hat.

„Nyon 10: Zum Abschied die Vorgänger“ weiterlesen

Nyon 10: Perret/Bussmann zum Letzten

Jean Perret, der scheidende Direktor der 'Visions du réel', Nyon

Morgen Donnerstag beginnt die 16. und letzte Ausgabe des Dokumentarfilmfestivals visions du réel in Nyon unter der Leitung von Jean Perret und seiner Frau Gabriela Bussmann. Sechzehn Jahre lang hat der einstige Radiojournalist und Gründer der semaine de la critique am Filmfestival von Locarno die Geschicke des ehrwürdigen Festivals am Genfersee geleitet. Perret hat das international renommierte, aber vom Publikum eher verschmähte Festival nach der Ära de Hadeln zu ungeahnter Blüte  geführt. Seine kommunikative Kunst hat Filmemacher, Produzentinnen und Kinobesucherinnen vereint und sie, zumindest zu den besten Zeiten bis vor ein paar Jahren, einmal täglich im Forum zusammengebracht. „Nyon 10: Perret/Bussmann zum Letzten“ weiterlesen

Diagonale 10: Werkstattgespräch mit Romuald Karmakar

Karmakar, Kamalzadeh, Zapatka (oben) ©sennhauser
Karmakar, Kamalzadeh, Zapatka (oben) ©sennhauser

Das war ein schöner Abschluss für meinen diesjährigen Diagonale-Besuch, das Werkstattgespräch, welches Dominik Kamalzadeh mit dem Diagonale-Gast Romuald Karmakar und dem Darsteller seines Himmler-Projektes und der Frankfurter Lektionen, Manfred Zapatka, führen sollte. Sollte, denn Zapatka war verhindert, und so hat sich Karmakar etwas einfallen lassen, um doch etwas bieten zu können. Dank der fünf Festplatten in seinem Gepäck und dem Umstand, dass er sich ohnehin zur Zeit auf Österreich-Tournee befindet (wegen Werkschau und Buch) hat er ad hoc aus seinem Material Einblicke in die Vorbereitungen zum Himmler-Projekt mit Zapatka und zu den Dreharbeiten zu Die Nacht singt ihre Lieder zusammengestellt.

„Diagonale 10: Werkstattgespräch mit Romuald Karmakar“ weiterlesen

Diagonale 10: DIE KINDER VOM FRIEDRICHSHOF

Die Kinder vom Friedrichshof

Auch wenn einem bei diesem Film zuerst wieder das Gefühl beschleicht, die Österreicher seien beim Filmen darauf aus, immer neue Leichen aus dem Keller zu bergen, der jahrzehntelangen Ignoranz gegenüber allen Schrecken und Peinlichkeiten der Vergangenheit ein für allemal den Garaus zu machen: Dieser Film wurde von einer Deutschen gemacht. Und die Leiche ist längst aus dem Keller. Es handelt sich um den Künstler Otto Mühl, der als Chefideologe und Zentraldiktator einer aus der Hippie-Bewegung hervorgegangenen Kommune 1991 zu sieben Jahren Haft verurteilt worden war. Und der Film ist von einer Wärme und einer Zurückhaltung, die einem das Herz zerreisst – dafür ist er formal leider mehr als brav. Es geht um die Kinder, die in dieser Kommune aufgewachsen sind, geprägt von einer strengen Ideologie, welche Zweierbeziehungen verbot, die Väter anonymisierte und die Kinder von den Müttern trennte. Wie diese Kinder heute auf ihre Kindheit und Jugend zurückblicken, das spürt Juliane Grossheim in ihrem Diplomfilm für die Kunsthochschule für Medien in Köln auf.

„Diagonale 10: DIE KINDER VOM FRIEDRICHSHOF“ weiterlesen

Diagonale 10: MEINE TOCHTER NICHT! von Wolfgang Murnberger

'Meine Tochter nicht!' von Wolfgang Murnberger ©Petro Domenigg

Ein Fernsehfilm von Murnberger. Silentium! Der Knochenmann! Ein Könner am Werk, hier für den ORF und das grosse Familienpublikum. Was bringt uns das an der Diagonale? Zunächst einmal ein Lehrstück über die Unterschiede zwischen Fernseh- und Kinofilm. Das fängt an mit allen TV-Klischees, als ob Murnberger die erst mal aus dem Weg räumen oder doch wenigstens abhaken möchte. Etablierung des Vaters als Manager einer Firma, Etablierung der Mutter als Teilhaberin einer Massagepraxis, Etablierung der beiden als liebende Eltern einer geliebten Tochter beim Feiern ihres 16. Geburtstages. Dazu Einstellungen auf Gebäude in Wien zur klaren Verortung, alles unterlegt mit Fahrstuhlmusik. Auch die Einstellungsgrössen und Schnittfolgen sind streng fernsehgerecht, close-up für Dialoge, Totalen zur Situierung, möglichst wenige Schwenks, und Zooms schon gar nicht und ein unauffälliger Schnittrhythmus. Aber dann setzt das Drama ein, und die Qualität des Drehbuches eröffnet Murnberger mehr und mehr die Möglichkeit einer filmischen Öffnung.

„Diagonale 10: MEINE TOCHTER NICHT! von Wolfgang Murnberger“ weiterlesen

Diagonale 10: DIRTY DAYS von Helmut Berger

Dirty Days Helmut Berger

Ein Schauspieler, der einen Dokumentarfilm macht über die ursprünglichste Form seines Berufes, das Tingeln, das hat schon grundsätzlich etwas Reizvolles. Im Falle von Dirty Days kommen aber noch etliche Reize dazu und am Ende steht ein überaus reizender Film. Helmut Berger, den man in der Schweiz auch von seiner Zeit in Basel kennt, hat sich überreden lassen, mit einer bunt zusammengewürftelten kleinen Truppe auf eine Theatertournee durch die deutsch-österreichisch-schweizerische Provinz zu gehen. ein Monat, 9000 Kilometer, billige Hotels und ein chaotisches Management, bei dem zu allem Elend am Ende auch noch die Impresaria mit der Kasse verschwindet. Und als ob das nicht alles schon schrecklich genug wäre, gibt die Truppe ausgerechnet Ödön von Horváths bittere Komödie Zur schönen Aussicht, ein Stück, mit dem die unerschrockene Truppe es in manchen Provinztheatern schon vor der Pause schafft, den halben Saal zu leeren – weil es ein böses Stück ist, ein giftiges, ein österreichisches, sozusagen.

„Diagonale 10: DIRTY DAYS von Helmut Berger“ weiterlesen

Diagonale 10: KOMA

'Koma' von Ludwig Wüst © Klemens Koscher

Niemand in Europa hat den cineastischen Selbsthass, den gnadenlosen Blick auf die menschliche Unzulänglichkeit weiter entwickelt als die Österreicher. Michael Hanekes strukturelle Gewalt, seine erfolgreiche Methode, sein Publikum zum ecce homo zu vergewaltigen, steht neben Ulrich Seidls dokumentarischer Methode. Ludwig Wüst stammt aus Bayern, er lebt aber seit vielen Jahren in Wien. Und Wüsts Spielfilm Koma schliesst nun sozusagen die Lücke zwischen Haneke und Seidl. Wie beim Diagonale-Eröffnungsfilm Der Kameramörder bildet ein Gewaltvideo den Reaktorkern.

„Diagonale 10: KOMA“ weiterlesen

Diagonale 10: Lust rennt

Andreas Lust ist 'Der Räuber' bei Benjamin Heisenberg
Andreas Lust ist 'Der Räuber' bei Benjamin Heisenberg

Nach der leisen Enttäuschung über den Eröffnungsfilm Der Kameramörder von gestern, war die Freude heute doppelt gross über Benjamin Heisenbergs Berlinale-Kandidat Der Räuber. Das Verbindende Element zwischen den beiden Filmen ist natürlich Andreas Lust, der gestern mit dem Diagonale-Schauspielerpreis ausgezeichnet wurde, eben so wie seine Partnerin in Der Räuber, Franziska Weisz. Dabei haben die beiden Filme nicht nur Lust gemeinsam, sondern etliche Züge, welche beim Räuber zu Stärken werden, im Kameramörder aber Schwächen bleiben. Bevor ich dazu komme, aber einfach ein augenzwinkernder Bildvergleich. Oben Lust als Räuber, unten, ebenfalls rennend, in Der Kameramörder:

„Diagonale 10: Lust rennt“ weiterlesen

Diagonale 10: DER KAMERAMÖRDER

Ursina Lardi, Dorka Gryllus, Andreas Lust, Merab Ninidze in 'Der Kameramörder'
Ursina Lardi, Dorka Gryllus, Andreas Lust, Merab Ninidze in 'Der Kameramörder'

Es ist ein Kreuz mit den Eröffnungsfilmen. Schliesslich müssen die neben den Hardcore-Cinephilen auch noch die Frau des stellvertretenden Bürgermeisters ansprechen, den Staatsratsvorsitzenden und seine Enkelin, und seine Exzellenz, den Botschafter des koproduzierenden Nachbarlandes. Mit der Verfilmung eines erfolgreichen Buches ist man wohl schon mal einen Schritt näher beim Publikumskino. Aber was Robert Adrian Pejo mit seinem Team da aus dem gleichnamigen Buch von Thomas Glavinic gebastelt hat, ist eher ein Showreel für talentierte Leute, ein bunter Strauss dramatischer Andeutungen, aber ohne psychologische Entwicklung, dramatische Logik und vor allem ohne zwingenden Bogen.

„Diagonale 10: DER KAMERAMÖRDER“ weiterlesen