Duisburg 09: Scharf beobachtete Grossmütter

'Schneeränder' von Nele Wohlatz
'Schneeränder' von Nele Wohlatz

Auch wenn die Duisburger Filmwoche, wie ihr langjähriger Leiter Werner Ruzicka glaubhaft versichert, es normalerweise vermeidet, ähnlich gelagerte Filme am gleichen Tag zu programmieren, so hat sich heute doch eine überaus reizvolle Kombination ergeben. Schneeränder von Nele Wohlatz und Sämtliche Wunder von Juliane Henrich sind Enkelinnenfilme. Beide haben ihre in ihrer Beweglichkeit eingeschränkten greisen Grossmütter mit der Videokamera beobachtet, haben mit vergleichbarer Ausgangslage zwei komplett unterschiedliche Dokumentarfilme gemacht, völlig unabhängig voneinander. Und beide Filme haben neben einer ausgemachten Respektshaltung auch einen gruseligen Unterton: Schau, das ist das Alter. Während aber Wohlatz mit ihrer Kamera zu einem Teil des Gehirns ihrer Grossmutter wird, bleibt Henrich auf Distanz, wird von ihrer Grossmutter auf Distanz gehalten: Hol Dir etwas zu trinken, Mädchen! Aber erst mal einzeln:

Nele Wohlatz
Nele Wohlatz

Nele Wohlatz hat viele Tage und Nächte in der kleinen Berliner Wohnung ihrer Grossmutter verbracht, Stunden um Stunden von Video aufgezeichnet und ist dabei Teil des Gedächtnissystems der Grossmutter geworden, die kaum mehr Erinnerungen an ihr Leben hat – dafür eine Wohnung, die – randvoll gestopft – wirkt, wie ein vom Leben eher zufällig organisiertes Gehirn. Die alte Frau bewegt sich ächzend und stets auf der Suche nach etwas durch ihre Zimmer, macht täglich den rituellen Gang zum Briefkasten (wo ihr regelmässig der Schlüssel fehlt). Wohlatz macht aus ihrer Präsenz im Film keinen Hehl, die Grossmutter spricht sie hinter der Kamera ein paar mal an, bittet sie in einer Schlüsselszene, ihr eine Fotografie zu reichen. Aber Dialoge vermeidet der Film, interviewt wird nicht, und die Kamera verlässt, wie die alte Frau, die Wohnung eigentlich nicht. Der Blick auf die tägliche Routine vom stöhnenden Aufstehen über den Instant-Cappucino bis zum Einschlafen mit dröhnendem Transistorradio (gegen die Gespenster der Halbschlaferinnerungen?) werden leicht variiert, bis man sie kennt. Einmal schneidet Wohlatz, als Ersatz für die Einstellung auf die schlafende Grossmutter, die ja im Dunkel nicht zu filmen gewesen wäre, ein sich wohlig unter Wasser tummelndes Zwergflusspferd über die Tonspur, auf der eine Schlafende atmet: Ein wunderbar mehrschichtiges, unglaublich stimmiges Bild, zärtlich, ironisch und melancholisch zugleich. Und einmal eine alte Filmaufnahme der Grossmutter als jüngere Frau, im Strassenschnee Berlins. Dass ihre Grossmutter jahrelang Zeitungsausschnitte in ein Tagebuch geklebt hat, ergänzt um handschriftliche Notizen zu Wetter und Temperaturen, mag auf den ersten Blick erschrecken, weil es sich ausschliesslich um Alltägliches und Banales handelt. Zugleich aber entpuppt sich dieses Zeitverankerungssystem der Grossmutter als Modell für ihr Festhalten am Leben, das zumindest innerhalb der Wohnung auch ohne klare Erinnerungen seinem Lauf folgt und seine Ordnung hat.

Interessant ist nicht nur das hohe Drehverhältnis (Wohlatz hat viele Tage an Material zusammengetragen), sondern vor allem der Vorgang der Reduktion beim Schnitt. Fast alles, was sie einmal als mögliche Filmelemente geplant hatte, erklärt sie, sei schliesslich weggefallen, als sich immer stärker zeigte, dass der ritualisierte Minimalismus am klarsten und deutlichsten wiedergeben würde, was den Altag dieser alten Frau prägt: Ein fast demütiges sich einrichten und festhalten an dem, was sich noch festhalten lässt.

saemtliche wunder
'Sämtliche Wunder' von Juliane Henrich

Völlig anders verhält es sich mit der Grossmutter von Juliane Henrich. Auch sie ist in ihrer Bewegung eingeschränkt, sieht nicht mehr viel und bewohnt nur noch das Erdgeschoss ihres Einfamilienhauses. Im oberen Stock bauen Wespen ihre Nester, der Sohn fummelt allenfalls am PC wenn er auf Besuch ist und – so vermutet die alte Frau bitter – die Betten sind nicht gemacht und alles in Unordnung, da oben. Aber sie schminkt sich, legt Wert auf die Maniküre, dominiert jede Szene und weigert sich ganz klar, mehr Territorium aufzugeben als unbedingt nötig: Hol dir was zu trinken Mädchen, sagt sie auch dann noch, als sie vor Müdigkeit kaum mehr aus dem Liegestuhl kommt am Abend nach einem familiären Restaurantbesuch. Anders als Wohlatz hat Henrich nur ein Wochenende lang gedreht, drei Tage, und das Material danach rigoros geschnitten und montiert. Dabei hat sie fast die gleichen hybriden Entscheidungen getroffen, was ihre eigene Präsenz im Film angeht: Markieren, klar stellen, aber nicht als Protagonistin auftreten, die Interaktion mit der Frau minimalisieren – ohne sie zu brüskieren. Wenn also die Grossmutter sich beklagt, dass man doch nicht sagen könne, die Enkelin studiere „Film“, erklärt Henrich ruhig, sie könne ja sagen „Kunst“. Eine anerkennde Bemerkung der Grossmutter zum eingesetzten Mikrofon bleibt eben so im Film, wie ein kurzer Wortwechsel darüber, dass „Priester ihre Worte sorgfältiger wählen würden, wenn sie solche Mikrofone hätten“. Die einzige echte Intervention der Filmemacherin wird von der alten Frau gar nicht wahrgenommen, liefert dafür aber den Titel des Films: Auf Wunsch der Grossmutter legt Henrich eine Platte auf, Abendmusik, und wählt dafür Lieder von Hildegard Knef. Die Grossmutter nimmt das Chanson kaum wahr, aber die Zeile „sämtliche Wunder“ aus „Für mich solls rote Rosen regnen“ bleibt bei Henrich hängen. Und bei mir im Kino natürlich auch.

Juliane Henrich
Juliane Henrich

Und was nun bewirkt die Interaktion dieser beiden so ähnlichen Filme bei mir im Kopf? Zunächst einmal musste ich mir am Vormittag beim Ansehen von Schneeränder sehr schnell eingestehen, dass mich (mit Jahrgang 1961) zum ersten Mal im Leben eine Panik vor dem Altern gepackt hatte, hier, in Duisburg, im Kino. Nie zuvor hatte ich erlebt, wie sehr der Film ein Festhaltesystem sein kann, eine Krücke zur Erhaltung alles Vergänglichen. Dieses Einnisten mit der Kamera im Wohn- und Erinnerungssystem der alten Frau war schlagend, traurig und faszinierend zugleich. Und die sorgfältige, monatelange Arbeit mit dem Material, seine Sichtung, Zusammenstellung und schliessliche Reduktion zu diesem so schlichten, unausweichlich und unbestechlich ablaufenden Erkennen bedeutet einen grossartigen Wurf für die junge Filmemacherin.

Bei Juliane Henrichs Sämtliche Wunder dagegen packte mich (und offenbar etliche andere im Saal auch, wie sich in der nachfolgenden Diskussion herausstellte) zunächst das Gruseln über die Vertrautheit des mittelständischen Einfamilienhauses mit seinen Bildern, Gegenständen, Reminiszenzen an ein Familienleben, das dann aber mit keinem Wort erwähnt wird. Was da zu sehen ist auf dem kurzen Streifgang der Kamera, das ist zwar einerseits Material aus dem Leben einer Familie, zugleich aber altbekannter zentraleuropäischer Normschrott, so ausstauschbar, dass ich die Hälfte davon in meinem eigenen Elternhaus hätte holen können. konsequenterweise kümmert sich die alte Frau auch nicht mehr um die Einordnung. Sie kämpft um ihre Wohnhegemonie, ihre Souveränität. Was sie nicht mehr beherrscht (wie den ersten Stock) wird verächtlich gemacht, oder, wie die sprechende Uhr, welche noch immer Winterzeit spricht, abgekürzt: Wie sie zu stellen wäre, weiss die alte Frau nicht mehr, also hat sie sich angewöhnt, die fehlende Stunde zu ergänzen. Nur logisch, dass sie das Angebot der Enkelin, die Uhr zu richten, ablehnt.

Was aber auch bleibt, bei beiden Filmen, ist das Gefühl der Wärme, der Wahrnehmung dieser beiden alten Frauen durch ihre Enkelinnen. Beide, und das ist ganz offensichtlich, haben zwar iher Grossmütter zum Stoff für erste eigenständige Arbeiten gemacht, auf ihrrem Weg zu belegbarer Professionalität. Aber beide konnten dies nur darum, weil sie nicht nur ihre Rollen definierten, sondern auch ein Leben von Erinnerungen an ihre Grossmütter und deren Rollen in ihrem eigenen Leben integrierten. Schneeränder und Sämtliche Wunder sind Denkmäler für zwei Individuen, aber zugleich, wie alle guten Dokumentarfilme, repräsentativ und universell. Worin da genau der Trost liegt? Vielleicht einfach in der Tatsache, dass sich Gestaltung einmal mehr als Kunst zu erkennen gibt?

Wenn dem so ist, dann funktioniert die Duisburger Filmwoche einmal mehr perfekt bei mir, gegen Winterdepression: Erkenne die Lage.

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