SFT12: TOULOUSE von Lionel Baier

Alexandra Angiolini, Julia Perazzini in 'Toulouse'

Lionel Baier hat es wieder fertiggebracht: Der Mann macht Filme, die nicht nur nahtlos in der grossen Westschweizer Tradition stehen, sondern auch noch eine Art Synthese darstellen. Toulouse nimmt Themen und Befindlichkeiten der 70er Jahre auf und ist zugleich absolut von heute. Eine entschlossene junge Frau ist mit ihrer Tochter unterwegs im Waadtland. Sie kauft auf einem Hof einen alten Ford Taunus, mit dem die beiden (bei denen man bald das Gefühl hat, sie seien auf einer unbestimmten Flucht) allerdings bald immer wieder erkannt werden. Zuerst vom Polizisten, der sie anhält, weil sie ohne Nummernschilder unterwegs sind, dann vom Mann, der ihnen weiterhilft, als das Benzin ausgeht. Alle kennen Solange, den goldbraunen Ford Taunus. Und da hilft es auch nicht, dass die raketenbegeisterte kleine Marion das Auto in „Ariane“ umbenennt.

Toulouse hat mich restlos begeistert. Kein anderer Spielfilm hier in Solothurn ist dermassen reich aufgeladen auf jeder Ebene und zugleich so simpel. Da sind die Kornfelder und Landschaftsbilder, das Terrorismus-Substrat und die Frauenfiguren, die an Alain Tanner erinnern, etwa an seinen wunderbaren Messidor, die Wolkenbilder und der Musikeinsatz, die Tankstelle, die assoziativen Schnitte, die von Godard kommen, und da sind die absolut hinreissenden Einfälle von Baier, der für einen verblüffenden Bildwitz manchmal nur ein paar Frames braucht. Zum Beispiel bei der Einstellung auf einen Jet am Himmel, der den üblichen Kondensstreifen hinter sich zurücklässt und nur solange sichtbar bleibt, bis er hinter einem Laternenpfahl verschwindet – aber auf der anderen Seite nicht wieder hervorkommt. Wenig später kehrt Baier das Bild sogar noch um, diesmal erscheint der Jet aus dem Nichts auf der anderen Seite des Pfahls, ohne den Kondensstreifen in der anderen Bildhälfte. Schon der Versuch einer Beschreibung dauert drei mal länger als die Bildfolge auf der Leinwand. Und dies in einem Spielfilm, der insgesamt bloss 63 Minuten lang ist. Im Kern erzählt der Film einfach, wie sich Cécile mit ihrer Tochter von deren abwesendem Vater trennt, von dem man in Rückblenden und Einschüben erfährt, dass er einer Gruppe radikaler Oekoterroristen angehört. Erstaunlich daran ist, dass die Geschichte so tatsächlich eins zu eins in den Siebzigerjahren hätte erzählt werden können, aber nie so wirkt, als ob sie in jene vergangene ZEit gehören würde. Damit spielt Baier sogar, zum Beispiel, indem er einen Original-Werbefilm für den Ford Taunus einschneidet, der mit seiner Pseudo-Morricone-Musik, seiner Road-Movie-Ästhetik und der geballten Ladung Auto-Faszination ganz eindeutig und unverwechselbar aus einer längst vergangenen Zeit stammt. Solche Brüche, die in Wirklichkeit das Gegenteil sind, nämlich Brücken, machen das formale Herz dieses Films aus. Aber auch sonst ist der Film einfach randvoll mit Kinoglücksmomenten, vom Musikeinsatz über die Schauspielerinnen bis hin zu unglaublich anarchisch-komischen Szenen. Wo immer Toulouse zu sehen sein wird: Nicht verpassen.

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