Locarno 14: ELECTROBOY von Marcel Gisler

'Electroboy' © Vinca Film GmbH
‚Electroboy‘ © Vinca Film GmbH

Florian Burkhardt war wohl ein mehrfaches Zeitgeistkind. In seiner Raupen-Jugend, die Marcel Gislers Dokumentarfilm allmählich und sorgfältig aufblättert, vor allem aber in seinen schillernden Schmetterlingsphasen als Möchtegern-Filmstar, international erfolgreiches Fotomodell und Posterboy, Webdesign-Pionier und schliesslich Party- und Musik-Designer Electroboy.

„Generalisierte Angststörung bei narzisstischer Persönlichkeitsstruktur mit
Selbstwert- und Identitätsproblematik mit Anteilen einer sozialen Phobie.“

Dieser Satz aus der psychiatrischen Akte, die nach Florians Selbsteinlieferung angelegt worden war, gab für Marcel Gisler den Ausschlag, das Dokumentarfilmprojekt über den „Electroboy“ anzugehen. Nachdem er zwei Jahre früher ein Spielfilmprojekt abgelehnt hatte. Der Dokumentarfilmvorschlag der Zürcher Produzentin Anne-Catherine Lang leuchtete ihm ein.

Mit Mops in Bochum © Vinca Film GmbH
Mit Mops in Bochum © Vinca Film GmbH

Zwei Jahre akribische Recherchezeit mit Vorgesprächen und detaillierten Konzepten gingen dem Dreh voraus. Und dann wurde der Film doch komplett anders, wie das bei einem Dokumentarfilmprojekt eigentlich auch sein muss.

Das lange Interview mit Florian Burkhardt, das Gisler mit ihm in dessen Wohnung in Bochum geführt hat, ist der Lebensnerv des Films. Florian erzählt, wie sein eigenes Leben mit 21 begonnen hatte, als er das Lehrerpatent in der Tasche hatte und das strenge Diktat des Elternhauses hinter sich liess, mit Hilfe eines Freundes eine komplette Identität als künftiger Filmstar aufbaute und in Los Angeles auch gleich den passenden Agenten fand.

Florian Burkhardt © Vinca Film GmbH
Florian Burkhardt © Vinca Film GmbH

Florian Burkhardts Erinnerungen bekommen nicht nur durch seine Formulierungen eine manische Qualität. Es ist vor allem auch sein eigenes fast ungläubiges Staunen über die eigene Unverfrorenheit, den naiven Erfolgsdrive, der ihn damals beherrschte – und ihm offensichtlich Flügel verlieh. Ihm, und seinem Mentor/ Freund/ Manager/ Financier/ Chauffeur/ Agent Urs „Fidji“ Keller.

Und dann folgt Gislers Film der bewährten Dokumentarfilmdramaturgie, immer wieder eine neue Seite umzublättern, eine weitere Überraschung aus der Vergangenheit aufzudecken, weitere Zusammenhänge sichtbar zu machen.

Die unglaublichen und zu guten Teilen unglaublich erfolgreichen Selbst-Erfindungen des Florian Burkhardt sind schon für sich genommen derart phantastisch, dass es manchmal schwer fällt, alles für bare Münze zu nehmen. Marcel Gisler ist es offenbar schon bei den Recherchen eben so ergangen. Aber verblüffenderweise ist es dann ausgerechnet Florian Burkhardts eigenes, distanziertes und analytisches Erzählen, welches die Glaubwürdigkeit herstellt. Der Mann hat in den wenigen Jahren seit seinen Höhenflügen eine kritische Distanz zum eigenen Leben entwickelt, die mit reisst und mitleiden lässt.

Vielleicht liegt es daran, dass mich die effiziente und zupackende Dramaturgie des Filmes unruhig werden liess. Denn die Geschichte wird immer mehr zum Familiendrama, ihre Protagonisten schälen sich unter Schmerzen aus der eigenen Vergangenheit heraus, und das Publikum im Saal weiss sich des öfteren seines eigenen Unbehagens nur noch durch Lachen zu erwehren. Wenn Gisler mit seiner Zwiebelschäldramaturgie den wilden Ritt also noch wilder macht, kann einem schon wind und weh werden.

Hildegard Burkhardt © Vinca Film GmbH
Hildegard Burkhardt © Vinca Film GmbH

Aber am Ende ist auch dies eine der grossen Qualitäten des Films. Denn das Lachen gilt, wie meist, der Diskrepanz zwischen dem Offensichtlichen und dem Formulierten, dem Abgrund zwischen dem, was sichtbar wird und dem was man bloss vermuten kann. Wir reagieren mit Sympathie und Mitleid. Die Burkhardts sind bei aller Tragik und in ihrer aussergewöhnlichen Konstellation doch auch eine typische Schweizer Familie; die ungleichen Brüder Florian und Claudius sind in der gleichen Zeit aufgewachsen wie viele von uns.

Marcel Gislers erster Dokumentarfilm ist seinem schillernden Sujet gewachsen, ist weit mehr als nur die Aufzeichnung von Zusammenhängen. Electroboy geht über das Dokumentarische hinaus, bekennt sich klar dazu, dass der Akt des Filmens, des Fragens nie passiv bleiben kann, nie ohne Auswirkungen auf die Gefilmten und Befragten. Und so macht Gisler auch den konsequenten nächsten Schritt und greift sichtbar ein, macht sich und sein Kamerateam zu einem therapeutischen Instrument, seinen Film zu einer Art „Familienstellen“.

Und obwohl die strenge klassische, ethnographisch geprägte Dokfilm-Ethik genau dieses aktive Filmen eigentlich verbietet, wirkt Gislers Electroboy noch viel nachhaltiger und ehrlicher in der Offenheit, mit dem er seine Rolle anerkennt.

(67. Festival del Film Locarno, Semaine de la critique)

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Marcel Gisler

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