Der Film, der die diesjährige Duisburger Filmwoche eröffnet hat, ist ein Nachkomme des Duisburger 3Sat-Preisträgers von 2011. Und der Filmemacher Florian Hoffmann der Sohn der damaligen Preisträgerin Heidi Specogna.
In Carte Blanche war ein weinendes Mädchen in Zentralafrika zu sehen, das sechs Jahre früher von Rebellen angeschossen worden war. Damals schrieb ich hier:
Specogna zeigt ein Mädchen, dessen Schusswunde am Knie sechs Jahre nach den Ereignissen noch immer nicht verheilt ist. Sie zeigt, wie die Mutter die Wunde mit einem Kräutersud wäscht, während das Kind schreit wie am Spiess und mit dem Arm aus dem Frame heraus greift. Das ist zugleich ein unendlich starkes Bild, das mich als Zuschauer wunschgemäss überwältigt – und ein dokumentarisch extrem heikler Moment, weil das Leiden des Kindes für diese filmische Überwältigung instrumentalisiert wird. Dass Specogna den Mut aufbrachte, das so im Film zu lassen, spricht für ihre Sorgfalt, hätte ihr aber noch vor ein paar Jahren hier in Duisburg massive Prügel eingetragen.
Die Erschütterung über das Leiden von Arlette brachte ein Ehepaar in der Schweiz dazu, das Geld aufzutreiben, um die nun Fünfzehnjährige in Europa operieren zu lassen, Kontakt und Organisation liefen über die Familie der Filmemacherin.
Für den Ethnologen und angehenden Filmemacher Florian Hoffmann und seine Familie stellten sich damit eine ganze Reihe von Problemen. Wie organisiert man so eine Hilfsaktion? Wie lädt man eine Fünfzehnjährige vorübergehend nach Berlin ein, ohne sie dabei zumindest zeitweise zu bevormunden? Und wie dokumentiert man ihre Angst, ihre zeitweilige Einsamkeit ohne die eigene Präsenz ins Bild zu rücken?
Und dann die ganz andere Frage: Warum soll man so was überhaupt dokumentieren?
Arlette – Mut ist ein Muskel findet mehr oder weniger angemessene Antworten auf diese Fragen. Und sorgt schliesslich dafür, dass sich die grosse, ganz andere Frage von selber beantwortet. Oder nicht mehr stellt. Aber dafür braucht es zuerst mehr als einen halben Dokumentarfilm, der mitunter hart an seine Grenzen kommt.
Da ist gleich zu Beginn der Off-Kommentar des Filmemachers, der die Ausgangslage beschreibt; die einschlägige Szene aus Carte Blanche wird kunstvoll mittels Freeze Frames und Farbentzug noch einmal aufgenommen.
Das zentrale Unbehagen, der eigentliche Horror, damals, bestand ja darin, dass für die Dauer der Szene die Kamera nicht mehr die körperlose Maschine war, sondern das Auge der Filmemacherin repräsentierte, mich als Zuschauer zur teilnamslosen Teilnahme zwang.
Für den Nachfolgefilm suchte Hoffmann ein Verfahren, das dieses Dilemma umgehen sollte. Die Kamera begleitet Arlette wie ein bekannter Geist, ein mechanisches Auge, ein Spiegel allenfalls. Der Kameramensch wird zum Verschwinden gebracht.
Wenn Arlette in ihrem Dorf abgeholt wird, sich von ihrer Familie verabschiedet, voller Angst, aber auch Hoffnung, alleine in eine Taxi steigt und zum Flughafen fährt, dann ist die Irritation noch gross, das Gefühl der Inszenierung, die spürbare Differenz zwischen der dokumentarischen Situation und der der spielfilmartigen Kamerahaltung: Die Fünfzehnjährige ist alleine unterwegs, der Film will das so.
Das wird dann noch extremer in der Berliner Charité, wo die Operation stattfindet. Die Kamera steht meist starr in einer Ecke des Zimmers und beobachtet Arlette. Die junge Frau wirkt meist wie ein kleines Mädchen, manchmal verloren traurig und allein, dann wieder verspielt, verträumt, tanzend zu Musik aus dem Kopfhörer. Ihre Begegnungen mit den Ärzten, Therapeuten, Pflegerinnen sind geprägt von Offenheit einerseits und beinahe unüberwindlichen Sprachbarrieren andererseits.
Dabei wird ihre Einsamkeit fern von der Familie spürbar. Zugleich aber wirkt ihre Isoliertheit wie eine neue Fiktion, die Begegnungen mit dem Filmteam sind weitgehend ausgeblendet. Umso so stärker wirkt dann ein Moment, in dem Florian Hoffmann plötzlich ins Bild kommt, um sie zu trösten. Oder viel später Heidi Specogna, welche im Brandenburger Reha-Zentrum zugegegen ist, als Arlettes Rekonvaleszenz-Therapie entwickelt wird.
Der Trick mit der penetrant körperlosen Kamera ist zweischneidig. Einerseits ist er der Versuch, das dokumentarische Dilemma zu umgehen. Andererseits kann die fiktionale Abwesenheit der Filmemacher auch umschlagen in etwas völlig Unerwartetes, Erschreckendes: Es gibt Momente, in denen wirken die Aufnahmen wie jene Bilder, die eine ferngesteuerte Kamera aus der Nestecke im Löwenhaus im Zoo überträgt, dieser Blick auf die Jungtiere im Schutz der künstlichen Höhle, voyeuristisch ungehemmt.
Aber all diese Spannungsfelder, denen der Film ja offensichtlich nicht ausweicht, treten zurück ins theoretische Häuschen, als in Zentralafrika die Aufständischen wider die Regierung erneut losschlagen, der Krieg wieder wütet, die Bevölkerung dem gleichen Terror erneut ausgesetzt ist und Arlette plötzlich ihre Heimflugpläne begraben muss.
Zwischen all den ängstlichen und meist in Frustration endenden Skype-Telefonaten nach Hause und dem Moment, in dem die Mutter mit wütender Bestimmtheit von Arlette verlangt, auf jeden Fall in Europa zu bleiben und ja nicht nach Hause zu kommen, ist kein Platz mehr für subjektive Zuschauerfragen nach Perspektive und Betroffenheit.
Und wenn Arlette die wütende Aufforderung ihrer Schwester, endlich Geld zu schicken («Fait un effort!») mit purer Frustration über die Verkennung ihrer tatsächlichen Situation in Berlin nicht einmal mehr kontern kann, ist der Dokumentarfilm auch plötzlich wieder unmittelbar wirksam.
Arlette – Mut ist ein Muskel ist ein dokumentarisches und ein menschliches Experiment. Ein Film, der offensichtlich noch viel mehr auslässt, als er zeigt, und sich doch den grundsätzlichen Fragen und Problemen stellt. Nicht immer völlig souverän – zum Glück.
Der Film ist in seiner TV-Fassung auf 3sat zu sehen: 10.Nov. um 22:25 Uhr.