Locarno 17: CHARLESTON von Andrei Cretulescu (Wettbewerb)

Radu Iacoban, Serban Pavlu © Versatile

Der Film, der im Abspann Ioana gewidmet ist, beginnt mit dem Unfalltod eben dieser Ioana. Ein paar Schnitte weiter stehen wir mit ihrem Ehemann Alexandru am Grab, unpassende Musik im Ohr. Bis ein älterer Herr an ihn herantritt und etwas fragt. Da nimmt Alexandru einen Stöpsel aus dem Ohr und die Musik setzt aus.

Auf dem Heimweg lernen wir Alexandru als schweigsamen, lakonisch-schlagfertigen und trinkfesten Mann kennen. Er füttert die Katze auf dem Küchentisch, lässt aber das Telefon unter dem Sessel läuten. Erst als es an der Wohnungstür klingelt, geht er öffnen. Und als der bebrillte, beschnautzte junge Mann draussen sich als Liebhaber seiner verstorbenen Frau vorstellt, streckt er ihn wortlos mit einem Faustschlag nieder.

Radu Iacoban © Versatile

Das ist, natürlich, der Anfang einer wunderbaren Freundschaft. Und wie es diese wunderbaren Freundschaften so mit sich bringen, brauchen sie einen ganzen Film, hier zwei volle Stunden, um sowohl dem einen wie auch dem anderen Beteiligten bewusst zu werden.

Das rumänische Kino der letzten zehn Jahre hat immer wieder verblüfft mit eigenen Geschichten, einem eigenen Realismus und vielen Ausprägungen. Aber so nahe an Aki Kaurismäki oder Jim Jarmusch ist es dabei kaum je gekommen.

Man verzeiht Drehbuchautor und Regisseur Andrei Cretulescu ob seiner unzähligen skurrilen Einfälle auch die Szenen, die sich etwas zu sehr bemühen.

Der linkische, beschnauzte, bebrillte Sebastian, der auch schon mal losheult und sich seiner Liebe für die tot Ioana nicht im geringsten schämt, ist das Gegenstück zum alkoholisch-zynisch verstockten Alexandru (der manchmal ein wenig an Mad Man Don Draper erinnert).

Serban Pavlu © Versatile

Zusammen bilden die zwei eines jener unwahrscheinlichen Männerpaare wie sie das Kino seit Laurel und Hardy über Abbott und Costello bis zu Bud Spencer und Terrence Hill immer wieder hervorgebracht hat.

Serban Pavlu, Radu Iacoban © Versatile

Charleston bietet dabei eine ganze Palette von inszenatorischen Höhepunkten, etwa einen besoffenen Parallel-Tanz der beiden Männer zu einer von Ioanas Lieblingsplatten. Oder einen Kinobesuch von hinreissend absurder Alltagslakonie bis hin zu jenem stets auftauchenden Ticketinhaber, der im leeren Saal auf genau jenen Platz besteht, der ihm zusteht, auch wenn das der einzige ist, der schon besetzt ist.

Dabei geht Charleston bei aller Liebe zur skurrilen Situationskomik immer wieder tiefer. Am schmerzlichsten ist vielleicht das Mittagessen bei Ioanas Eltern, bei dem der Vater dauernd begeistert von Jagdhunden erzählt und die Mutter sich auf das Servieren des Essens konzentriert. Bis Alexandru den Elefanten in den Raum setzt und Sebastian als den Liebhaber ihrer Tochter der letzten fünf Monate vorstellt. Das wird dann ignoriert und der Besuch ist zu Ende.

Charleston ist ein Film über die Möglichkeit zu trauern und Erinnerungen zu teilen – oder eben zu verweigern. Dass der kaltschnäuzige, aber offensichtlich leidenden Alexandru dabei zunächst die attraktivere Figur macht, steigert dann aber auch die fast schon utopisch-liebevollen, linkischen Bemühungen von Sebastian.

Radu Iacoban, Serban Pavlu © Versatile

Schliesslich scheint sogar Alexandru zu ahnen, dass Sebastians Umgang mit der Trauer und sein Freundschaftsangebot eine ganz eigene Grösse darstellt. Er legt ihm die Hand auf die Schulter und sagt: «Du bist der grösste Idiot, der mir je untergekommen ist. Ändere dich bitte nie!»

Das wäre dann eben der Casablanca-Moment dieses eigenwilligen Filmes. Aber selbst den vermag Cretulescu noch zu steigern mit einer weiteren Schlusssequenz. Auch die bemühend und zu Herzen gehend zugleich.

Charleston, der Film, ist wie Sebastian: Der geht einem mitunter gehörig auf die Nerven. Aber er ist ungemein rührend und er hat Recht.