Auf der Piazza Grande und im Wettbewerb, in Locarno werden dieses Jahr Familienkonstellationen durchgespielt. Wobei Speckenbachs Freiheit die vielleicht vertrauteste Variante unter höchst präzise Parallelbeobachtung stellt: Ein Partner bricht aus und verschwindet.
Hier ist es die von Johanna Wokalek genau und distanziert gespielte Nora, die eines Abends die gemeinsame Wohnung verlässt und nicht mehr zurückkommt.
Zuhause in Berlin zurück bleibt ihr Mann Philip mit dem jungen Sohn und der eben zum Teenager erblühten Tochter, verzweifelt auf der Suche nach der bald Vermissten und zugleich unter permanentem Verdacht, wie er argwöhnt.
Der Film fächert die beiden Welten parallel auf, die Odyssee der Nora, die sich über Wien nach Bratislava durchschlägt, von kurzen Sexaffären über verlorenes Wandern bis zum verlängerten Sitzen an einer Endstation im einen Strang.
Und parallel dazu eben das Leben des Juristen Philip, der als Verteidiger ausgerechnet einen jungen Schläger vor dem Gefängnis bewahren, der einen afrikanischen Flüchtling ins Koma geprügelt hat.
Schon in einer der ersten Sequenzen am Anfang sieht man Nora von aussen durchs Fenster in einem städtischen Bus sitzen. Die Kamera blickt auf sie hinter der Scheibe und zugleich auf die Seitenwand des Buses, in der sich die vorbeiziehende Stadt spiegelt und schliesslich ein parallelfahrendes Tram. Bis dieses in einer Rechtskurve verschwindet, der Bus nach links, wie ein sich öffnender Reissverschluss.
Nur wenige Szenen sind so unverhohlen symbolträchtig, die meisten Momente sind im Gegenteil handfest und oft in sich geschlossen inszeniert.
Nora bleibt im Bus sitzen und lässt sich vom Fahrer an der Endstation auch nicht vertreiben, als der eine halbe Stunde Pause einfordert. So wird sie zur Zeugin eines dreisten Diebstahls der Buskasse, worauf sie dann doch das Weite sucht, um nicht als Zeugin aussagen zu müssen – was ja ihre Familienflucht ziemlich schnell beenden würde.
Philip dagegen müht sich mit den Kindern und seiner Arbeit ab, mit der Schwiegermutter, auf die er zum Kinderhüten angewiesen ist und die er nicht ausstehen kann. Und er lässt sich schliesslich gar auf die Affäre mit Kollegin Monika ein, bis die Tochter die beiden beim Sex im Elternschlafzimmer überrascht.
Sex steht in diesem Film für die Möglichkeit einer anderen Welt, für den kurzen Ausflug vom Ich. Bei Philip und Monika ist er zugleich die sonst uneingestandene Erkenntnis, dass Nora nicht zurück kommen wird.
Und für Nora ist der erste Sex mit einem charmant-forschen jungen Mann, der sie im Supermarkt anmacht, so lange eine Art Freheitsbestätigung, bis sie ihn dabei erwischt, wie er in ihrer Tasche wühlt und ihren richtigen Namen herausfindet.
In Bratislava schliesslich freundet Nora sich mit Etela an, einer jungen Mutter, die ihr Geld mit live-Sex-Shows verdient, aber sowohl ein überaus sonniges Gemüt hat, wie auch mit dem Koch Tamas einen soliden und geerdeten Freund.
Speckenbach erzählt nicht einfach die Geschichte von Noras Flucht (auch wenn die Figur ihren Ibsen-Namen sicher nicht zufällig trägt). Und er erzählt auch nicht bloss aus dem Leben der zurckgebliebenen Familie.
Der Film macht seinen Titel Freiheit zum gesuchten Zustand, den alle suchen, und mit dem sie alle herzlich wenig anfangen können. Denn die Freiheit bleibt in diesen Konstellationen immer das Gegenteil von Sicherheit und Vertrautheit.
Was Speckenbachs Film dabei besonders auszeichnet, ist die schön gefasste Nüchternheit, die Präzision der aus dem Alltag geholten Szenen, und die Unerbittlichkeit, mit der er Wunsch und Leben zusammen zwingt, beziehungsweise, sich ausschliessen lässt.
Freiheit ist, wie alt werden, nichts für Feiglinge.