Zum Tod von Alain Tanner

Alain Tanner ist tot. Der wichtigste und erfolgreichste Vertreter des neuen Schweizer Films der 1960er und 70er Jahre ist heute Morgen 92jährig gestorben.

Zwölf Jahre bevor Hollywood mit dem feministischen Roadmovie Thelma & Louise zwei Frauen aus den gesellschaftlichen Zwängen ausbrechen liess, hatte Alain Tanner das schon in der Schweiz durchgespielt.

Messidor hiess Tanners Film von 1979, in dem die Studentin Jeanne und die Verkäuferin Marie aufbrechen, um die Freiheitsmöglichkeiten der reichen Schweiz zu erkunden – und tödlich scheitern.

In der Schweiz kam Messidor – wenig überraschend –  nicht ganz so gut an, wie Tanners vorherige Erfolge. Dabei gehört er rückblickend wohl zu seinen radikalsten Visionen.

Alain Tanner stand und steht für den neuen Schweizer Film, der in den 1960er Jahren vor allem in der Romandie eine eigentlich Aufbruchsstimmung verbreitete. Hand in Hand mit dem jungen Westschweizer Fernsehen übernahmen Alain Tanner, Claude Goretta und die anderen Filmemacher des sogannten «Cinéma copain» (Kumpelkino) die Einflüsse des Neorealismus aus Italien, der Nouvelle vague aus Frankreich und schufen einen neuen, persönlichen, gesellschaftkritischen Ton.

Vor allem Tanner, mit Jahrgang 1928 zwei Jahre älter als Jean-Luc Godard, verband dabei immer wieder Bitterkeit und Hoffnung, Kritik an herrschenden Zuständen mit einem Sinn für lustvolle Utopie.

Nirgends eindrücklicher als mit Jonas qui aurait 25 ans en l’an deux mille – Jonas, der im Jahr 2000 fünfundzwanzig Jahre alt sein wird.

Der Titelheld von Alain Tanners wohl bekanntestem Film stand damals, 1976, für die Zukunft, die ganz anders sein würde.

Myriam Mézières und Jean-Luc Bideau in ‚Jonas qui…‘ von Alain Tanner

«Wenn es ein Junge ist, wird er Jonas heissen.»

Das verkündet der potentielle Vater am Esstisch der kleinen landwirtschaftlichen Kommune bei Genf, im Kreis der Männer und Frauen, die versuchen, ganz anders zu leben. Dass es ihnen nicht wirklich gelingt, ist nicht so schlimm. Denn Jonas und die anderen Kinder der Gruppe können es ja später immer noch versuchen.

Als Alain Tanner das Drehbuch für seinen fünften Film schrieb, zusammen mit dem Schriftsteller John Berger, galt die gesellschaftliche Revolution von 1968 vielen als gescheitert und Alain Tanner ging bereits auf die 50 zu. Und er hatte nicht im Sinn, die Aufbruchsstimmung seiner eigenen Jugend einfach fahren zu lassen.

Der Film Jonas… war eine Bestandesaufnahme und zugleich die Weiterführung der Hoffnung auf Neuaufbruch… Die Stimmung, die einst den 18jährigen jungen Genfer «Bourgeois» Alain Tanner erfasst hatte.

Das sei verblüffend gewesen, gleich nach dem zweiten Weltkrieg, dieses Gefühl eines Neubeginns, erinnerte sich Tanner mehr als sechzig Jahre später auf einem Podium am Filmfestival in Locarno.

Als er in Genf die ersten neorealistischen Filme aus Italien gesehen hatte, sei er 1947 nach Italien gefahren, um zu sehen, was da abging.

Ausserdem wollte er einfach weg aus der Enge der Schweiz. Nachdem er an der Uni Genf brav Wirtschaftswissenschaft studiert hatte, heuerte er in Genua für zwei Jahre als Matrose bei der Handelsmarine an.

Aber eigentlich habe er nie etwas anderes gewollt, als Filme zu machen.

1955 zog er nach  London und arbeitete für das British Film Institute. Und in London realisierte er auch, zusammen mit seinem Westschweizer Freund und Kollegen Claude Goretta, den Kurz-Dokfilm «Nice Time». Das restliche filmische Handwerk lernte er in Frankreich, und zuhause in der Romandie profitierten er und seine Kollegen des sogenannten «Cinema copain» von der Experimentierfreude des jungen Westschweizer Fernsehens, das sie machen liess.

Jacques Denis, Jean-Luc Bideau, Bulle Ogier in ‚La salamandre‘ von Alain Tanner (1971) © filmo

Charles mort ou vif – La Salamandre – Le Milieu du monde … Alain Tanners Filme waren gesellschaftliche Stimmungsbilder, hoffnungsfroh und verzweifelt zugleich. Und über Paris und Frankreich wurden sie zu grossen Erfolgen.

Damit wurde Tanner schliesslich zum wichtigsten und lange auch aktivsten kulturpolitischen Vorkämpfer für den neuen Schweizer Film – auch in der Deutschschweiz.

Als Tanner dann, unter anderem mit Myriam Mézières, seine neue Schaffensphase begann, die weit in die 1990er Jahre hinein das männliche Driften und die Faszination mit der Weiblichkeit umkreiste, stiegen vor allem die Kritiker nach und nach aus.

Als aus der Zeit gefallen empfanden wir den „alten Herrn“ da plötzlich. Dabei blieb er vor allem konsequent bei seinen Themen und seiner Haltung, setzte das einfach alles noch persönlicher um.

Zu Alain Tanners 80. Geburtstag musste ich mir einen Ruck geben und eine Entschuldigung verfassen. Er hat sie sicher nie gelesen. Aber ich bin heute froh, bin ich zumindest mit mir im Hinblick auf Tanner seither wieder im Reinen.

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