THE ZONE OF INTEREST von Jonathan Glazer

GRAND PRIX CANNES 2023

© A24 Films

Ohne ihn zu zeigen, vermittelt The Zone of Interest den Horror des Konzentrationslagers von Auschwitz, wie noch kein Spielfilm zuvor. Das Meisterwerk von Jonathan Glazer hatte am Freitag seine Premiere am Festival von Cannes.

Hedwig (Sandra Hüller) und Rudolf (Christian Friedel) haben für sich und ihre fünf Kinder ein Traumhaus ausgebaut, mit riesigem Garten, einem Schwimmbecken mit Rutschbahn, Pferdestall.

Die hohe Gartenmauer hinten hätten sie mit Reben bepflanzt, erklärt Hedwig ihrer Mutter, die zu Besuch ist. Damit man sie später nicht mehr so sehe.

Die Mauer ist die Aussenwand des Konzentrationslagers von Auschwitz. Rudolf ist Rudolf Höss, der Kommandant des Lagers, verantwortlich für die Vergasung und Verbrennung tausender von Jüdinnen und Juden. Ein effizienter Organisator, stolzer Ehemann und liebevoller Vater.

Was hinter der Mauer geschieht, ist allenfalls auf der Tonspur präsent. Schreie, Schüsse, Hundegebell. Hin und wieder steigen dicke Rauchfahnen auf. Und einmal holt Höss seine planschenden Kinder blitzartig aus dem Fluss, weil eine dicke Ascheschicht angetrieben kommt.

Jonathan Glazer ist einer der eigenwilligsten und originellsten Filmemacher der Gegenwart. In Under the Skin (2014) ging einem Scarlett Johansson als Alien unter die Haut, als eine sich selbst entdeckende Kreatur. Die Szenen, in denen sie einem Mann vorangeht, in absoluter, schwarzer, flüssiger Dunkelheit versinkend, die wirken im Publikum stärker nach als dessen eigene Träume.

The Zone of Interest beginnt in dieser Dunkelheit, mit einem schreimurmelnden Chor. Und im nächsten Bild sieht man die Familie Höss beim Picknick am See.

Grundlage des Films ist der gleichnamige Roman von Martin Amis. Allerdings hat Glazer daraus nur die Familie im Haus an der KZ-Mauer übernommen und die tatsächlichen Verhältnisse der Familie Höss minutiös recherchiert. Während Amis’ Roman aus drei Perspektiven erzählt, gibt uns Glazer eine einzige, fliessende, in festen Einstellungen, mit fixen, ferngesteuerten Kameras gefilmt, die sich je nach Figur ein wenig verschiebt.

Vollends absurd wird die blinde Idylle, als Höss in die Zentrale nach Oranienburg versetzt werden soll, und Hedwig sich rundweg weigert, ihr selbstgefügtes Familienparadies in Auschwitz zu verlassen.

Das effektivste Grauen im Kino ist dasjenige, das nicht zu sehen ist. Als Zuschauerin oder Zuschauer muss mich Glazers Film gar nicht zwingen, mir vorzustellen, was jenseits der Mauer passiert. Ich kann (und will, zu meinem Schrecken) gar nicht anders.

Umso krasser wirkt die Fähigkeit dieser strammdeutschen Mittelstandsfamilie, alles auszublenden. Hedwig findet im Pelzmantel einer jüdischen Frau, den sie aus den Lagerbeständen «bestellt» hat, einen Lippenstift, den sie sogleich ausprobiert. Und ihrer Freundin erzählt sie von dem Diamanten, den sie in einer Tube Zahnpasta gefunden habe. Natürlich habe sie gleich noch mehr Zahnpasta bestellt.

Dass Jonathan Glazers höchst innovativer, konzeptuell konsequenter Film so einen indirekten Sog entwickelt, liegt natürlich auch an all den vielen Filmen, die vor ihm waren, die Bilder aus Schindler’s List ruft The Zone of Interest ab wie Geisterahnungen.

Aber Glazer geht weiter. Er schiebt etwa geisterhafte, mit einer Thermokamera gefilmte Sequenzen ein, Bilder von einer jungen Frau, die nachts Obst oder Kartoffeln rund um das Lager versteckt, für die Häftlinge, die da draussen tagsüber Zwangsarbeit leisten.

Er lässt Rudolf Höss in einem Moment körperlicher Übelkeit einen Blick auf die Putzequipe werfen, die in unserer Gegenwart vor der Besucheröffnung am Morgen die Räume der Ausschwitz-Gedenkstätte reinigt, die Scheiben vor den Bergen von Schuhen oder Koffern.

Und dem ganzen Film unterliegt ein Score, der mitunter zu schreien scheint, oder mit einem tiefen Röhren die Krematorien nachklingen lässt, die Höss mit einer spezialisierten Firma als Ringanlage für Dauerbetrieb konzipiert hat.

Auch die muss Glazer dafür nicht zeigen. Die sauber gezeichneten Pläne und die Erklärungen der Ingenieure sind viel grauenerregender.

Die goldene Palme von Cannes hat dieser Film ohne Zweifel verdient. Ob er sie auch bekommt?

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